0712 - Satan von Kaschmir
Blutvergiftung…«
Der Master Sergeant stieß den Corporal Richtung Ausgang.
»Die Mujahedin werden dich schon auf andere Gedanken bringen!«
Nachdem das Regiment vollzählig angetreten war, erschien der kommandierende Offizier.
»In der vergangenen Nacht gab es Bombenanschläge und Heckenschützen-Angriffe nördlich der Azad Road«, verkündete er. »Wir werden uns das Gebiet heute ansehen. Mit gewalttätigen Handlungen ist zu rechnen. Wenn Mujahedin auftauchen, macht ihr von der Waffe Gebrauch. Es wird scharfe Munition ausgegeben!«
Seit 1988 war Kaschmir Zankapfel zwischen Indien und Pakistan. Zwei Drittel der Provinz standen unter indischer Hoheit, über den Rest regierte Pakistan. Doch die Hizbul-Mujahedin, eine moslemische Guerilla, forderte die Vereinigung ganz Kaschmirs mit dem ebenfalls islamischen Pakistan - und zwar mit Hilfe von Waffengewalt.
Mit Stahlhelmen auf den Köpfen und Gewehren in den Fäusten schwärmten die Gebirgsjäger nördlich der Azad Road von Srinagar aus.
Misstrauisch linsten sie in offen stehende Fenster. Die Männer waren verflucht nervös. Jederzeit konnte ein Heckenschütze auftauchen und das Feuer eröffnen.
Corporal Najaf war nicht mit den Gedanken bei der Sache. Während er mit schussbereitem Karabiner durch die engen Gassen schlich, bekam er die Träume der vergangenen Nacht nicht aus dem Kopf.
Die Familienlegende besagte, dass einer seiner Vorfahren ein heiliger Mann gewesen sein sollte. Vor langer Zeit, vor Tausenden von Jahren.
Najaf hatte diesen Sadhu im Traum gesehen. Doch nicht nur den Heiligen, auf den die Familie sehr stolz war.
Außerdem hatte der Soldat noch eine schreckliche Vision gehabt. Von einer unaussprechlich bösen Dämonenbestie.
Dieses Ungeheuer war in einem Berg eingeschlossen. Doch im Traum hatte Najaf gespürt, dass dieses Wesen nun ausbrechen konnte.
Und plötzlich hatte der Träumende die Stimme seines Vorfahren vernommen.
»Wenn die Sonne zum nächsten Mal untergeht, wird dein Blut die Erde Kaschmirs tränken. Du wirst vergehen, letzter Träger meines Blutes. Und dann wird das Böse zurückkommen und unser Land verheeren…«
»Gibt es einen Ausweg?«, hatte der Soldat im Traum gefragt. Und die Antwort des Asketen war entmutigend gewesen.
»Nein.«
Trotzdem trug Corporal Najaf seinen bevorstehenden Tod mit Fassung. Als gläubiger Hindu bat er die Götter um eine gute Wiedergeburt.
Während Najaf seine stummen Gebete sprach, rückte seine Einheit auf eine verwaiste Straßenkreuzung vor.
Plötzlich explodierte eine Bombe!
Sie war in einem schrottreifen LKW versteckt gewesen, der vor einem Teehaus parkte. Einige Gebirgsjäger wurden durch die Druckwelle zu Boden gerissen.
Und dann setzte ein Sperrfeuer ein. Die Männer waren in einen Hinterhalt geraten. Mujahedin feuerten von den Dächern der Häuser und aus Fenstern. Ein schweres MG beharkte die Straßenkreuzung.
Verstärkung rückte nach. Die Guerillas ließen sich auf keinen offenen Kampf ein, sondern verschwanden.
Die Gebirgsjäger setzten ihnen nach. Erst nach einigen Stunden formierte sich die Einheit neu. Man hatte drei Gefangene gemacht, einen Mujahedin erschossen und eine Menge Waffen erbeutet.
Die indische Armee hatte an diesem Vormittag fünf Verletzte zu beklagen. Und einen Toten.
Corporal Najaf war von einer Kugel in die Stirn getroffen worden.
Seine Kameraden standen um den Leichnam herum. Und obwohl sie alle schon viele Tote gesehen hatten und keiner von ihnen eng mit Najaf befreundet gewesen war, fühlten die Gebirgsjäger eine eisige Panik, die sich in ihrem Inneren ausbreitete…
***
Indien, Provinz Kaschmir, Frühsommer 2001
»Hier ist es!«
Stolz präsentierte Ali Jama seinen Glaubensbrüdern den Höhleneingang. Ali war fest davon überzeugt, dass nur Allahs Wille ihn zu der versteckten Grotte geführt hatte.
Der Junge wusste, dass die Männer ihn noch nicht für voll nahmen. Weil er erst vierzehn Jahre alt war und ihm noch kein nennenswerter Bart wuchs. Darum durfte er auch noch nicht richtig mit den anderen Mujahedin gegen die Inder kämpfen. Sondern höchstens ab und zu Botengänge unternehmen oder melden, wenn die Regierung in Neu Delhi wieder frische Truppen schickte. Die meiste Zeit verbrachte Ali zu seinem Leidwesen mit Schafehüten.
Und bei dieser Tätigkeit hatte er den geheimen Ort zufällig entdeckt.
Hier, in dem unwegsamen Gebirgsgelände zwischen Srinagar und Anantnag, mochte es Tausende von Höhlen geben, die niemand jemals betreten
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