0712 - Satan von Kaschmir
sich, ob er sich vielleicht verhört hatte. Aber das war unmöglich. Erstens sprach die Frau Kaschmiri, seine eigene Muttersprache. Und zweitens war es in dem kleinen Teehaus so still, dass man unmöglich etwas falsch verstehen konnte.
»Du musst verrückt sein«, platzte Ali heraus. »Glaubst du, Zamorra würde dir sein Amulett verkaufen?«
Das Lächeln wich nicht aus dem schönen Gesicht der Inderin.
»Natürlich nicht. Ich hatte mir eher vorgestellt, dass du das Schmuckstück diesem Zamorra wegnehmen und mir geben könntest.«
»Stehlen soll ich?« Obwohl er noch in der Nacht versucht hatte, mit Zamorras Brieftasche zu entkommen, erschien dieser Gedanke Ali inzwischen unfassbar. Er betrachtete Zamorra und Nicole inzwischen wirklich als seine Freunde und Verbündeten. Das hatte ihm so lange gefehlt, als er sich allein auf der Straße hatte durchboxen müssen.
»Du wirst es nicht erleben, dass ich meinen Freund bestehle!«, bekräftigte Ali.
»Du sollst es nicht umsonst tun.«
Plötzlich hatte die schöne Unbekannte einen Koffer unter ihrer Sitzbank hervorgezogen. Sie öffnete ihn so, dass nur Ali den Inhalt sehen konnte.
Der Koffer war prall gefüllt mit großen Rupien-Scheinen. Tausender. Für einen Waisenjungen wie Ali Jama ein unglaubliches Vermögen.
Doch der junge Kaschmiri sprang auf und machte einen Schritt rückwärts. Sein Teebecher kippte um. Der Inhalt floss über den Tisch. Alis Gesicht verzerrte sich vor Abscheu. Er machte mit den Fingern das Zeichen gegen den bösen Blick.
»Lass' mich in Ruhe, du Hexe! Ich verrate meine Freunde nicht! Du - du weißt nichts von mir!«
Die Schöne ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie schaute Ali fragend an.
»Sonst würdest du es nicht wagen, einem rechtgläubigen Moslem Geld in einem Koffer aus Schweinsleder anzubieten! Doch selbst wenn du dein Blutgeld zwischen die Seiten des Heiligen Koran gesteckt hättest, würde ich es nicht nehmen!«
Der Junge griff sich seine Einkäufe und rannte aus dem Teehaus.
»Wir sehen uns noch«, murmelte die Schöne im Sari.
***
»Glaubst du, dass Ali zurückkehrt?«
Nicole hatte diese Frage an Zamorra gerichtet. Die beiden Dämonenjäger streiften durch die Bibliothek des Shri Pratap Singh Museums. Hier suchten sie in der Geschichte Kaschmirs nach Hinweisen auf den Kriegerdämon.
»Ich bin überzeugt davon«, gab sich Zamorra zuversichtlich. »Der Junge ist kein schlechter Kerl, Cherie. Er hat das Stehlen gelernt, weil er auf der Straße überleben musste. Und mit seinen Hasstiraden ist es auch besser geworden, seit er zu uns Vertrauen gefasst hat.«
»Du bist ein unverbesserlicher Optimist, Chef«, erwiderte Nicole. »Aber ich eigentlich auch, wenn ich es mir recht überlege«, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu.
Zamorra bligb vor einem Regal stehen. Er zog einen dickleibigen Wälzer hervor.
»Vielleicht steht da was drin.«
Er zeigte Nicole den Titel. »Legends of Ancient Kaschmir«, hieß das Buch.
»Zum Glück ist es auf Englisch«, sagte Zamorra und trug den Wälzer zu einem Leseplatz. »Wenigstens ein Vorteil der britischen Kolonialzeit.«
Nicole setzte sich neben ihn und linste ihm über die Schulter, als Zamorra zu blättern begann.
»Hier ist etwas, Cherie.« Das Kapitel hieß: Dämonen, Geister und Spukgestalten. Zamorra las laut vor.
»Zur Regierungszeit von Kaiser Ashoka der Maurya-Dynastie (273-232 v. Chr.) soll in Kaschmir ein grässlicher Dämon sein Unwesen getrieben haben. Diese Bestie glich einem riesigen Krieger. Der Dämon hatte drei Hörner auf seinem Helm und besaß ein mächtiges Schwert, mit dem er angeblich Blitze schleudern konnte. Sein Name war Gubhar. Er ritt auf einer Dämonenkatze, die Kela genannt wurde. Gubhar verfügte der Legende nach über ein eigenes Reich, in dem er die Seelen seiner Opfer versklavte. Dieses Reich soll für Menschen unsichtbar gewesen sein, aber neben unserer Welt existiert haben. Als Kaiser Ashoka die Untaten von Gubhar nicht mehr dulden konnte, sandte er ein mächtiges Heer, um den Dämon zu vernichten. Doch Gubhar wütete schrecklich unter den Soldaten. Da erschien ein Sadhu, ein heiliger Einsiedler, und bannte Gubhar mit Hilfe von frommer Magie. Doch gelang es dem Heiligen nicht, Gubhar zu töten. Er konnte den Dämon lediglich mit Hilfe der Soldaten in eine Höhle sperren. Eine große Buddhastatue im Vorraum soll verhindern, dass Gubhar jemals wieder in Kaschmir sein Unwesen treiben kann. Doch ob diese Grotte wirklich existiert, ist nicht
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