0726 - Krematorium der Angst
hörte nur ihren schweren Atem.
Den geweihten Silberdolch hatte ich bereits gezogen. Die Klinge hielt ich zwischen Daumen und Zeigefinger, sie wippte in meiner Hand, als ich zielte.
Der Schädel drückte sich hoch. Er hing an dem grüngrauen Schleimkörper wie ein zitternder Gummiwulst. Unter der Masse konnte ich noch Gesichtszüge sehen. Sie glichen denen des Jungen, der aber wie ein Erwachsener gewirkt hatte.
Ich wartete ab.
Er drückte sich hoch.
Ich schaute direkt in das häßliche Schleimgesicht, wartete noch eine Sekunde, dann schleuderte ich den Dolch schräg nach unten.
Treffer!
Er jagte mit einem Klatschen in die Masse hinein. Das widerliche Zeug spritzte in die Höhe, Tropfen verteilten sich wie stinkende Reste. Die Masse bewegte sich zuckend, dann klatschte sie zurück und schlug mit dem Gesicht zuerst auf.
Keine Bewegung mehr, dafür das Knistern, als würde Papier gegeneinander gerieben.
Der Ghoul verging.
Er löste sich nicht auf, sondern zog sich zusammen und kristallisierte dabei.
Es war ein Vorgang, der Jill Cooper mehr schockte als mich, denn ich kannte ihn ja. Sie sah aber zum erstenmal, wie ein derartiges Monstrum unter dem Einfluß des geweihten Silbers verging. Leider konnte man die Fenster nicht öffnen, der Gestank blieb also, ihn sonderte auch noch die helle Kristallmasse ab, die von dem Ghoul zurückgeblieben war und sich in den Teppich hineingefressen hatte.
Es war vorbei…
Ich nahm die Waffe wieder an mich, reinigte sie am Polster eines Sitzes und steckte sie weg.
Dann ging ich auf Jill zu.
Die starrte mich mit einem Blick an, den ich bei ihr noch nie gesehen hatte. Zuerst bewegte sie ihre Lippen, ohne etwas zu sagen, dann sprach sie schnell und hektisch. »Ich… ich werde verrückt«, flüsterte sie. »Ich werde einfach irre. Das kann… das darf doch nicht wahr sein. Ich… ich bin…«
»Lassen Sie uns gehen.«
»Und wohin?«
»In ein anderes Abteil.«
»Aber was ist mit dem?« Sie zeigte auf den Rest, der als schmale Kristallspur auf dem Teppich klebte und aussah, als hätte man Salz oder ein anderes Kristall verstreut.
»Nichts ist mit ihm«, sagte ich. »Er wird Ihnen nicht mehr gefährlich werden.« Ich hob die Reisetasche an, öffnete die Tür, nahm auch meinem Koffer und ließ Jill Cooper den Vortritt. Sie schlich an mir vorbei, eine Gänsehaut im Gesicht.
Im Gang war die Luft besser. Wir holten beide tief Atem. Ich ging vor und hörte, wie sie nach einer Erklärung verlangte. »Ja, das müssen Sie mir alles genau sagen, John.«
»Keine Sorge, ich werde es.«
Sie holte mich ein, als ich die Tür zum nächsten Wagen aufzog. »Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben, John. Sie haben mir da eine Story erzählt…«
Ich drehte kurz den Kopf. »Und was war mit Ihrer Menschenkenntnis, Jill?«
»Vergessen Sie das.«
»So schnell?«
»Ja, verdammt!«
Ich ging weiter. Dieser Wagen war besser besetzt, aber ein leeres Abteil fanden wir trotzdem. Als ich aus dem Fenster schaute, stellte ich fest, daß sich der Tag eingetrübt hatte. Es regnete allerdings noch nicht.
Die Gepäckstücke wuchtete ich nach oben ins ›Netz‹. Jill hatte sich schon gesetzt und schaute in einen Handspiegel.
»Was ist denn?« fragte ich sie.
Sie schüttelte sich. »Ich habe noch immer diesen widerlichen Geruch in der Nase. Es kommt mir vor, als würde er in meinen Kleidern hängen. Einfach widerlich.« Sie zog mit zwei Strichen die Lippen nach. Da wir in einem Raucher-Abteil saßen, reichte ich ihr eine Zigarette. Danach bekam sie Feuer, auch ich steckte mir einen Glimmstengel an, sah Jills prüfenden Blick und erwartete ihre Fragen.
»Nun mal raus mit der Sprache, John! Wer sind Sie wirklich?«
»Meinen Namen habe ich Ihnen gesagt.«
»Und den Beruf auch - wie?«
»Sicher.«
»Aber Sie sind kein Anwalt.«
Ich wußte, daß sie nicht aufhören würde zu bohren, stöhnte einige Male auf und verdrehte dabei die Augen. Ich sagte ihr nicht die volle Wahrheit, redete nur um den Brei herum. Sie ließ nicht locker, schüttelte ständig den Kopf, weil sie mir nichts glaubte.
Auch den Privatdetektiv nahm sie mir nicht ab. »Aber in diese Richtung zielt es«, gab sie zu.
»Ja.«
»Bleibt der Polizist.« Ich nickte.
Sie lächelte triumphierend, kam auf den Ghoul zu sprechen und verlangte eine Erklärung.
»Sorry, Jill, aber die kann ich Ihnen nicht geben. Wenn Sie nachher aussteigen, werden Sie mich schon vergessen haben.«
»Nein, nie.« Sie schüttelte heftig den Kopf.
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