0736 - Jäger der Nacht
nur in gewissen Romanen gab.
Bram Stoker hatte darüber in seinem berühmten Roman Dracula geschrieben.
Dracula war ein Vampir gewesen, hatte ebenfalls solche Zähne gehabt, also gehörte das über ihr schwebende Gesicht ebenfalls einer Vampirin. Einer Person, die zwar tot, aber nicht so richtig tot war, denn sie irrte als lebende Tote durch die Nacht auf der Suche nach Opfern. Sie ernährte sich vom Blut anderer, sie trank den Lebenssaft wie Wasser, sie brauchte ihn, um weiterhin existieren zu können.
Sie brauchte Blut.
Auch mein Blut!
Dieser Gedanke war wie ein Schrei, der durch Mays Gehirn zuckte. Er peitschte die Angst noch einmal in ihr hoch. Zuerst wie ein Blitz, dessen Spitze auseinanderzuckte und dabei zerfaserte wie ein großer Blumenstrauß.
Er drang in jede Ecke ihres Hirns. Er brachte die grauenvolle Botschaft mit, er berichtete von einem Ende, das sie überfallen würde.
Vielleicht in Minuten, wenn dieses Wesen sie weiterhin quälte, vielleicht auch schon in Sekunden.
Noch immer existierten die großen Schwingen. Sie hoben sich noch einmal an, dann senkten sie sich nieder, und mit ihnen drückte sich auch der Kopf vor.
Nahe, sehr nahe.
Zu nah!
Jetzt der Biß.
Es war wie im Kino, und May hatte auch das Gefühl, einen Film zu erleben. Sie überriß noch nicht, daß es die Wirklichkeit war, die sie da gepackt hielt.
Etwas Spitzes streifte über die linke Halsseite hinweg, dann kamen die beiden Zähne zur Ruhe.
Eine Sekunde verging.
Zu langsam und zu schnell.
Der Biß!
Im selben Augenblick holte May noch einmal tief Atem. Sie pumpte die schlechte, muffige Luft in die Lungen, die von den Schwingen ausstrahlte. Zwischen ihren eigenen Zähnen schien sich etwas Klebriges festgesetzt zu haben, es war nur die Einbildung, und es sprudelte auch kein Blut von innen her in ihren Mund.
Dafür spürte sie den scharfen Biß.
Überdeutlich bekam sie mit, wie die beiden Zähne an zwei verschiedenen Stellen in die straff gespannte Haut ihres Halses hineindrangen. Es war kein echter Schmerz im eigentlichen Sinne, es war einfach das Gefühl, etwas Unbekanntes zu erleben.
Sie zuckte hoch.
Dabei hörte sie das unwillige Brummen, denn die Vampirin wollte, daß sie liegenblieb.
Sie brauchte dieses Wesen.
Sie brauchte das Blut!
Und sie saugte weiter. Ihre Lippen schienen an der Haut des Halses festgeleimt zu sein. Sie saugten sich hinein, sie ließen einfach nicht mehr los, und das Blut aus der Ader pumpte ihnen entgegen, was die Vampirin mit einem satten Grunzen quittierte.
Die Blutsaugerin war in ihrem Element. Es machte ihr Freude, das Blut zu trinken. Sie mußte es haben, denn nur dieser frische, unverbrauchte Lebenssaft garantierte ihr die weitere Existenz.
Flach lag May auf dem Rücken. Sie war noch nicht tot, sie war nicht einmal bewußtlos geworden, denn sie bekam all das mit, was sich in ihrer Umgebung abspielte.
Sie selbst war der Mittelpunkt!
May spürte die Wellen.
Zuerst nur allmählich und klein wogten sie heran. Immer schneller wuchsen sie dann an, wobei sie es schafften, sie wie ein nasses Gebirge in die Höhe zu heben und wegzuschwemmen.
Sie lag auf dem Boden, aber ihr Bewußtsein ging auf die lange Reise. Und sie wurde schwächer. Der Körper hatte keine Widerstandskraft mehr. Auch innerlich hatte sie es längst aufgegeben, sich zu wehren. Nur die weichen Lippen und die harten Zähne spürte sie an ihrem Hals.
Dabei hörte sie auch das Schmatzen.
Gierig klang es, als wäre jemand dabei, seinen Durst zu löschen, was auch im Prinzip geschah.
Blut gab Leben.
Und so saugte die Person weiter.
Mays Bewußtsein war nicht mehr da. Es war weggeschwemmt worden, fort aus dieser Welt und zielte gegen das gewaltige Schattentor, das den Eingang zum Reich der lebenden Toten bildete.
Sie glitt hinein.
Sie sah keine Sonne, nur die Dunkelheit, die unzählige Arme hatte, mit denen sie ihren Körper umschlang. Das war die andere Welt, die Welt des Grauens, des Unsichtbaren, die hinter der sichtbaren lag.
Eine Welt, in der das Böse Triumphe feierte.
Ihr Blick veränderte sich. Die Pupillen schienen zu rollen, sie waren plötzlich leer, ohne Leben.
Noch einmal zuckte das Gesicht an ihrem Hals. Es sah so aus, als wollte eine Blutsaugerin Luft holen, was natürlich nie eintreten würde. Doch diese Bewegung dokumentierte den letzten Kraftaufwand, den allerletzten Biß, das Saugen des Blutes aus den Adern, denn kein einziger Tropfen sollte verlorengehen.
Satt, zufrieden, der Durst war
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