074 - Der Sohn des Zyklopen
Plötzlich erfaßte Tirso seine Handlungsweise in ihrer ganzen Tragweite. Er hatte einen kurzen hellseherischen Moment, in dem ihm vor Augen geführt wurde, was geschah, wenn er den Fremden dazu brachte, auf den Abzug zu drücken. Dann würde ein Geschoß den Lauf verlassen, in die Mundhöhle des Mannes eindringen, das Gehirn treffen und am Hinterkopf wieder ins Freie austreten.
Diese kurze Vision verursachte Tirso Übelkeit.
„Nein!" schrie er auf und stieß den hermetischen Kreisel von sich, daß er wie ein Geschoß gegen die Wand prallte.
Der Aufprall des Kreisels erschütterte Dulas darin gefangenen Animus und verursachte ihr unsägliche Qualen. Sie wurde von einer unsichtbaren Kraft erfaßt und mit unheimlicher Wucht auf den Boden geschleudert, wo sie wimmernd liegenblieb.
„Ich will nicht töten", sagte Tirso schluchzend.
Er wollte seine Eltern beschützen. Niemand durfte Vater und Mutter etwas antun. Aber nicht um den Preis eines Mordes. Er hatte in seiner Vision gesehen, was für ein furchtbares Gesicht der Tod haben konnte. Ihm war davon immer noch übel. Er wollte so etwas nicht tun.
Dula kam taumelnd auf die Beine.
„Tirso, was ist mir dir?" fragte sie wütend, als sie sah, daß er schluchzend auf dem Bett lag. „Hast du mir nicht versprochen, nie wieder auch nur eine einzige Träne zu vergießen? Das geziemt sich nicht für dich."
Er gab keine Antwort, beruhigte sich, blieb aber auf dem Bett liegen. Sie hüpfte auf die Decke und kletterte bis zu seinem Nacken.
„Hast du mir nicht versprochen, ein artiger Junge zu sein?" redete sie beschwörend auf ihn ein. „Ich weiß, das fällt dir manchmal schwer, weil du nie eine richtige Erziehung genossen hast, Aber jetzt bin ich da. Ich werde dich leiten. Ich sorge dafür, daß du den richtigen Weg gehst. Man setzt in der Schwarzen Familie große Erwartungen in dich. Du darfst sie nicht enttäuschen. Du mußt deiner Bestimmung nachkommen."
„Ich gebe mir ja Mühe", sagte Tirso. „Aber - was du eben von mir verlangtest... Ich konnte es nicht tun."
„Es wird schon werden", tröstete Dula ihn. „Ich bin ja bei dir. Ich werde dir die Kraft geben, die du brauchst, um den Pfad des Bösen zu beschreiten."
Tirso erschauerte. Als Dula in sein Leben getreten war, da hatte er geglaubt, daß nun für ihn eine bessere Zeit heranbrechen würde. Aber seit sie da war, wurde für ihn alles nur noch schlimmer.
Ihr Singsang schläferte ihn ein und brachte ihm Alpträume.
Oben saßen seine Eltern vor dem offenen Feuer des Kamins eng beieinander, um der Kälte und der unsichtbaren Schrecken Herr zu werden.
Das Haus wurde wie bei einem Erdbeben erschüttert. Die Holzbalken ächzten, als könnten sie die Last nicht mehr tragen. Glas barst klirrend. Die Flammen im Kamin nahmen groteske Gestalten an und schleuderten Glutstücke auf den Mann und die Frau.
„Er träumt nur, Miguel", verteidigte Inez Aranaz ihren Sohn. „Er ist nicht böse. Was er auch macht, er tut es nicht mit Absicht. Aber du mußt zu ihm stehen, denn er ist dein Sohn."
Miguel Aranaz schüttelte nur immer wieder den Kopf. Er mußte etwas unternehmen. Vielleicht konnte ihm sogar Eiztari Beltza helfen - oder der Fremde. So konnte es nicht mehr weitergehen. Er ertrug dieses Leben nicht mehr. Mit Tirso wurde es immer schlimmer.
„Wir werden auch diese Krise durchstehen, Miguel", redete ihm seine Frau Inez zu.
Und sie begann zu beten: „Gure egun-eko agia i-gu-k egun..."
Aber das machte alles nur noch schlimmer. Sie brachte plötzlich keinen Ton mehr heraus, als hätte sie mit dem Gebet Dämonen heraufbeschworen, die ihr Sprechorgan lähmten. Das Kaminfeuer wärmte nicht mehr, sondern strahlte eine arktische Kälte aus.
Im Keller träumte Tirso unter Dulas dämonischem Einfluß.
Und oben ging der Terror weiter.
Bis zum Abend; die ganze Nacht hin durch; bis in den Morgen hinein.
Als die Schrecken endlich vorüber waren, bewaffnete sich Miguel Aranaz mit einem Jagdgewehr und machte sich auf den Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt an der Bidassoa-Mündung, Er mußte eine Entscheidung herbeiführen.
Dorian fand es bewundernswert, wie Eiztari Beltza die Treibjagd auf den Zyklopen in dieser kurzen Zeit organisiert hatte. Die meisten der Jagdteilnehmer glaubten, ihr Ziel seien die Windtauben. Nur die Mitglieder der baskischen Sekte kannten die wahren Hintergründe.
Eiztari Beltza hatte seine Leute auf die verschiedenen Jagdgruppen verteilt. Nur die Eingeweihten hatten ihre Gewehre mit
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