074 - Der Sohn des Zyklopen
verschwunden." „Ich werde sie wiederfinden", erklärte der Puppenmann impulsiv.
Dorian ging darauf nicht ein. Er wechselte das Thema und brachte die Sprache auf Tirso, den Zyklopenjungen. Auf diese Weise erfuhr er Chapmans Geschichte und fand seinen Verdacht bestätigt, daß Eiztari Beltza den Puppenmann als guten Hausgeist Galtxagorri gefangengehalten hatte und ihn dann auf Torto hetzte.
„Obwohl Torto blind ist, hat er mich sicher zu diesem Haus geführt", erzählte Chapman. „Er muß gespürt haben, wo sich sein Sohn versteckt."
Das war der letzte Beweis für Dorian, daß der Kinddämon in diesem Haus versteckt wurde. Die letzten Steine hatten sich ins Mosaik eingefügt.
„Der Zyklop hat sich im Stall versteckt", sagte Chapman. „Er würde eine leichte Beute für dich sein."
Dorian winkte ab. „Torto ist für mich gar nicht so wichtig. Ich suche Tirso. Komm! Sehen wir uns hier unten einmal um."
Dorian schaltete die Taschenlampe ein, da er sicher war, daß ihm die Dunkelheit keinerlei Schutz bot. Er hatte eine der Fähigkeiten des Zyklopenjungen bereits zu spüren bekommen, als eine unheimliche Macht ihn zwang, das Gewehr gegen sich selbst zu richten. Wem hatte er es zu verdanken, daß er dann nicht gezwungen wurde, abzudrücken?
Der Dämonenkiller hatte keine Ahnung, welche mörderischen Fähigkeiten noch in dem Zyklopenjungen steckten-. Aber welche magischen Talente er auch immer besaß - Dorian hatte ihm einiges an Lebenserfahrung voraus; und deshalb war er im Vorteil.
„Wir dürfen nicht den Fehler begehen, Tirso mit Torto auf eine Stufe zu stellen", sagte Dorian. „Wir dürfen Tirso nicht verurteilen, bevor wir nicht den Beweis seiner Bösartigkeit gefunden haben."
Dorian sagte dies in der Hoffnung, daß es der Zyklopenjunge hörte. Wenn er Menschen über große Entfernungen hinweg beeinflussen konnte, war er vielleicht auch in der Lage, ihre Gespräche und sogar ihre Gedanken zu belauschen.
Dorian kam zu einer Tür. Dahinter lag ein komplett eingerichtetes Kinderzimmer. Dorian leuchtete es aus. Es unterschied sich durch nichts von anderen Kinderzimmern. Die unordentlich über den Raum verstreuten Spielsachen waren auf die Bedürfnisses eines Vierjährigen abgestimmt.
Aber das dazugehörige Kind war nicht da.
„Tirso scheint noch nicht lange aus dem Zimmer zu sein", stellte Dorian fest, während er das Bettlaken befühlte. „Das Bett ist noch warm. Wahrscheinlich haben ihn die Geräusche geweckt, und er ist geflüchtet. Komm! Vielleicht finden wir sein Versteck."
Dorian hatte das Zimmer gründlich genug durchsucht, um sicher sein zu können, daß er hier nicht finden würde, wonach er suchte: nämlich den hermetischen Kreisel. Tirso mußte ihn mitgenommen haben.
Dorian, mit Chapman auf der Schulter, verließ das Kinderzimmer und drang tiefer in das unterirdische Gewölbe vor. Sie kamen in einen Weinkeller und von dort in ein Abteil, das mit allem möglichen Gerümpel vollgestopft war. Der Boden rund um die Flaschenregale und vor der Gerümpelkammer war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Daraus schloß Dorian, daß sich Tirso hier nicht versteckte. Selbst wenn er die magischen Fähigkeiten besaß, seine Spuren zu verwischen, so war er wohl kaum so gerissen, so etwas zu tun; dazu war er noch nicht lange genug durch Dulas Schule gegangen.
„Siehst du diese Tür?" meldete sich Chapman.
Dorian sah sie. Er leuchtete sie mit der Taschenlampe an. Auf dem Boden war kein Staub, rund um die Tür gab es keine Spinnweben.
„Was mag wohl dahinter sein?" fragte Dorian.
Er steuerte darauf zu. Als er keine drei Schritte mehr davon entfernt war, prallte er plötzlich zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Irgend etwas brandete gegen Dorians Gehirn und explodierte wie eine Bombe darin. Erst als diese geistige Explosion im Abklingen war, konnte der Dämonenkiller verschiedene Elemente aus diesem Schwall von Emotionen herausfiltern.
Die Angst war dominierend. Dort hinter der Tür war ein Wesen, das eine tiefe animalische Furcht empfand. Wie das in die Enge getriebene Wild, sah dieses Geschöpf keinen Ausweg mehr. Aber der hinter der Tür gefangengehaltene Zyklopenjunge war nicht so wehrlos wie das, gestellte Wild. Er schien nur nicht zu wissen, welche Fähigkeiten er besaß, um seine Jäger abzuwehren. Als seine Angst jedoch den Höhepunkt erreichte, da entluden sich die in ihm angestauten Emotionen und ließen Kräfte frei werden, die seine Feinde hinwegfegten.
Dorian
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