0743 - Die Kinder des Adlers
Gebrüll durch die Bretterwände auch draußen hören konnte, war ihm völlig egal.
»Ich habe es versucht, mehr konnte ich nicht tun«, antwortete die Alte. Ihre Unerschütterlichkeit stemmte sich der Wut Saramangos entgegen, machte ihn hilflos und noch wütender. »Wie viele Hütten sind bei dem Gewitter in den Fluss gespült worden, wie viele Arbeiter sind der Grube ersoffen? War es mein Fehler, dass dieser Pilot die Landepiste durch Zufall entdeckt hat? Warum hast du nicht irgendwo im Wald Fackeln anzünden lassen, um sie zu täuschen?« Die Alte flüsterte nur, aber ihre Macht war selbst für den vor Wut kochenden Saramango spürbar.
»Was ist mit dem Mann?«, fragte er, nachdem er eine Weile still gegen die Decke gestarrt hatte. »Ist er schon tot?«
»Nein, er lebt. Und er gewinnt an Stärke.«
»Dann tu etwas!«
»Ich werde selbst dorthin gehen müssen«, entschied die Alte. »Aber für den Weg brauche ich ein Opfer. Und glaube nicht, in diesem Fall wäre es mit einem halb verhungerten Bankert einer Nutte getan…«
Saramango kaute auf seiner Unterlippe. Dann wandte er sich zur Tür.
»Ich komme am Abend wieder«, sagte er, bevor er die Tür zuschlug, dass die gesamte Hütte ächzte.
***
Dieser Ort hatte keinen Namen. Nachdem sie sich von dem Flug erholt hatten, wagten sich Nicole Duval und Robert Tendyke zu einer Erkundung hinaus.
Der Himmel war wieder strahlend blau. Wären nicht die verschlammten Wege und die Rinnen gewesen, in denen sich die Sturzflut ihren Weg gebahnt hatte, dann hätte man das Gewitter für einen schlechten Traum halten können.
Die Ansiedlung zog sich an einem der zahllosen Urwaldflüsse hin. Obwohl er auf keiner Karte auftauchte, die Nicole oder Tendyke gesehen hatten, war er so breit, dass das Gegenufer nur als dunkler Streifen im Dunst erschien.
Auf dieser Seite führte eine steile Böschung zum Fluss. Häuser standen auf Pfählen im Wasser. Einige hatten mehrere Stockwerke, sodass man direkt vom Ufer über eine Bretterbrücke in die oberste Etage gelangen konnte. Als Tendyke nach dem Besitzer des größten dieser Häuser fragte, eines Gebäudes, das mit seinen Wänden aus Holzstämmen an ein Fort erinnerte, bekam er nur einen Namen zur Antwort: Saramango.
Nicole und Tendyke schauten sich an.
»Wir werden dem Herrn unsere Aufwartung machen müssen«, sagte Tendyke. »Er ist der Chef hier.« Und wohl nicht nur hier, fügte er für sich hinzu, denn er hatte die Satellitenantennen entdeckt, die auf der Wasserseite des Gebäudes angebracht waren.
Der Rest der Siedlung bestand aus baufälligen Hütten und Baracken, die teils aussahen, als wären sie nur entstanden, um den Plastikmüll der westlichen Zivilisation zu entsorgen.
Aus einer Baracke dröhnte Musik. Die Frauen - es waren grell geschminkte Indianerinnen -, die halb betrunken neben dem Eingang lehnten und jedem der vorbeigehenden Männer wortreich ihre Vorzüge schilderten, machten deutlich, welche Art von Vergnügen man hier neben dem Alkohol noch bekommen konnte.
Laute Stimmen klangen aus dem Schankraum. Durch ein Fenster war der Schatten einer Frau erkennbar, die sich auf einem Tisch zu den Klängen eines Schlagers drehte. Die Männer, die aus der Baracke schwankten oder sie betraten, waren bewaffnet. Sie starrten Tendyke und Nicole finster an, als wäre alleine schon das Erscheinen von Fremden ein Anlass zur Wut.
Alles in dieser Ansiedlung dünstete eine Mischung aus Gewalt, Gier und Traurigkeit aus.
»Ich bin sicher, dass dieses Bumslokal auch Saramango gehört«, sagte Nicole.
»Alles gehört Saramango. Und darum sollten wir jetzt zu ihm gehen.«
Es hätte zu den Gepflogenheiten eines Dschungelpotentaten gehört, seine Macht zu demonstrieren, indem er Besucher warten ließ.
Saramango bildete eine Ausnahme. Er persönlich empfing Tendyke und Nicole und bat sie in sein Haus. Sie balancierten über eine schmale Brücke und wurden auf eine Veranda geführt.
»Ich vermute, Sie wollen sich nach dem Forscher Trichon erkundigen«, eröffnete Saramango ohne Umschweife das Gespräch.
»Wie kommen Sie darauf?« Nicole war ehrlich überrascht.
»Weil er der einzige Europäer ist, der in den letzten hundert Jahren hier war. Und da Sie auch aus Europa sind…«
»Sie sind bestens informiert.«
»Informiert zu sein ist mein Steckenpferd.«
Nicole Duval versuchte, sich ein Bild von Saramango zu machen, diesem Mann, der ihr gegenübersaß.
Es gelang ihr nicht.
Er war höflich, wirkte angenehm kultiviert. Und
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