0746 - Das ägyptische Grauen
hinunter.
»Es sind meine Eltern!«, wiederholte sie.
»Wie bitte?«
»Ja, du hast richtig gehört.«
»Sind deine Eltern Steingebilde?« Suko schüttelte den Kopf. »Ich habe schon viel gehört, aber das kann ich nicht glauben, tut mir Leid. Wenn sie tatsächlich deine Eltern wären, müsstest du ebenfalls eine Steinfigur sein und kein Mensch aus Fleisch und Blut, so wie ich dich jedenfalls noch sehe.«
»Das ist richtig gedacht und auch logisch.«
»Eben.«
»Aber Logik ist nicht alles. Ihr neuen Menschen seid oft zu logisch. Ihr habt die alten Mysterien vergessen. Ihr wollt nicht wahrhaben, dass die Vergangenheit gewaltige Schätze für euch bereit hält. Man muss sie nur finden und verstehen.«
»Und du bist die Tochter?«
»Ja.«
»Aber du lebst und sie nicht.«
Thera lachte leise. »Wer sagt dir denn, dass meine Eltern nicht mehr leben? Sie sind etwas Besonderes gewesen. Sie haben eine weite Reise hinter sich und sie haben mich geprägt. Was ihnen nicht gelang, dass sollte mir gelingen. Sie kennen das Leben, sie kennen die Grausamkeit, sie kennen den Hass, aber sie kennen auch die Liebe und die Barmherzigkeit, Suko.«
»Für mich sind sie Stein.«
»Nur äußerlich.«
»Wer schaffte sie her? War es Cadi?«
»Was willst du von ihm? Sei dankbar, dass du vor einem der größten Rätsel der Geschichte stehst. Cadi ist in diesem Fall nur eine Randfigur. Er ist der Nutznießer. Er erhält die Kraft aus der alten Zeit. Meine Eltern sind ihm dankbar, weil er sie erkannt und nicht verachtet hat, wie es andere taten.«
»Dafür gibt es sicherlich einen Grund.«
Thera hob die Schultern.
Suko wollte vorerst nicht weiter in sie drängen, ihn interessierten die beiden haushohen Gesichter. Er wurde auch nicht aufgehalten, als er seinen rechten Fuß auf die erste Stufe der kleinen Treppe stellte. Er wollte mehr sehen, er wollte fühlen, er wollte wissen, um schließlich handeln zu können.
»Sie leben, sagtest du?«, fragte der Inspektor. Er hatte sich schräg hingestellt, um Thera anschauen zu können.
»Ich habe nicht gelogen.«
»Dann erlaubst du mir, dass ich mich selbst davon überzeuge?«
»Bitte.«
Suko gefiel das Lächeln nicht. Es war zu kalt und gleichzeitig zu wissend. Es passte ihm auch nicht, dass er Thera den Rücken zudrehen musste, und schielte deshalb immer wieder nach links, als er die nächsten Stufen hochstieg.
Als er den Kopf hob, sah er das Kinn dicht vor sich, und Suko riskierte es. Er wollte es berühren. Wenn der Steinkopf lebte, so wie Thera behauptet hatte, dann musste etwas zu merken sein.
Er fühlte nach. Der Stein war kalt, als er seine rechte Handfläche dagegen presste. Also doch nicht.
Suko probierte es weiter. Er tastete das Kinn ab, suchte an verschiedenen Stellen den Beweis für Theras Behauptung zu finden, ohne jedoch Erfolg zu haben.
Sie hatte ihn reingelegt!
Noch auf der Stufe stehend drehte er den Kopf, um ihr das zu sagen. Das erste Wort schon blieb in seiner Kehle stecken.
Thera war verschwunden!
Sie hatte ihn allein gelassen. Suko war für einen Moment lang nicht aufmerksam genug gewesen, nun musste er die Zeche zahlen.
Sie war der Lockvogel gewesen, hatte ihn zu diesen Köpfen gebracht. Dieser Platz wurde für Suko zu einem Ort der Gefahr.
Es hatte für ihn keinen Sinn mehr, länger auf der Treppe zu bleiben. Sehr rasch stieg er sie wieder hinab. Der unmittelbare körperliche Kontakt zu diesem Schädel hatte ein gewisses Unwohlsein in ihm aufsteigen lassen. Suko wollte Abstand gewinnen.
Er suchte Thera noch immer. Sie blieb verschwunden.
Suko schaute in die Lücke zwischen den beiden Köpfen. Sie sah aus wie ein düsterer Gang, der in eine andere Welt zu führen schien.
Überhaupt hatte sich dieser Ort völlig verändert. Suko kam sich überhaupt nicht vor wie auf einer Insel, sondern tief hineingedrückt in die mystische Vergangenheit des alten Ägypten.
War das auch Cadis Falle gewesen? Hatte er die anderen drei Männer ebenfalls an diesen Ort gelockt, um sie hier töten zu können?
Suko ließ seinen Blick noch einmal am Gesicht des Frauenkopfes hoch gleiten. Da hatte sich nichts verändert. Er war starr und das Gestein glänzte im bleichen Schein des Mondlichts.
Thera hatte von einen Leben gesprochen, mit dem die beiden Steinköpfe angeblich gefüllt waren. Suko wollte es nicht unterschreiben.
Er irrte sich.
Im nächsten Augenblick sah er, dass Thera nicht gelogen hatte.
Zumindest nicht bei dem Kopf ihrer Mutter. Dicht unter dem rechten
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