0749 - Hort der Wölfe
ich ihm vielleicht noch helfen. Wenn der Keim gerade erst gelegt wurde, gibt es noch Wege und Mittel, ihn zu tilgen.«
»Vielleicht wirkt mein Keim schon nicht mehr so stark. Immerhin bin ich schon eine Weile bei dir, und diese Zeichen«, Strongtree wies auf die Tätowierungen, die seine Arme unter der dichten Behaarung bedeckten und die ihm Old Man in stundenlanger Arbeit und dabei Gesänge in einer fremdartigen Sprache intonierend beigebracht hatte, »nehmen ihm doch auch viel von seiner Kraft, oder?«
Der Alte lächelte wieder, milde diesmal. »Du verstehst es noch nicht ganz, Strongtree. Diese Zeichen und alles, was ich dich lehre, sind keine Wunder-, sondern nur Hilfsmittel. Sie unterstützen dich, aber sie können dir den persönlichen Kampf nicht ersparen. Und dein Keim wird nie schwächer werden oder gar absterben - du musst stärker werden als er, um ihn zu bezwingen.«
»Ich weiß. Tut mir Leid«, sagte Strongtree leise. Diese Lektion hatte ihm Old Man gleich zu Anfang erteilt. Und es war nicht so, dass er sie vergessen hätte. Er hatte nur das dringende Bedürfnis, seinen Ungestüm der vorigen Nacht und vor allem die möglichen Folgen zu verharmlosen, und sei es nur sich selbst gegenüber.
Der Alte ging zur Hütte zurück. »Ich packe meine Sachen. Dann brechen wir auf.«
»Wie willst du den Mann finden?«, fragte Strongtree und folgte ihm.
In der Hütte legte Old Man seine Kleider ab und packte sie zusammen mit einigen anderen Dingen in einen Lederbeutel. Währenddessen antwortete er: »Du wirst ihn wiedererkennen. Und ich weiß, wo wir ihn finden werden.«
»Ja?«, wunderte sich Strongtree, obwohl er wusste, dass er sich doch eigentlich über nichts mehr wundern sollte, was Old Man anging.
»Denk nach, Junge. Gebrauche deinen Kopf. Auch das ist übrigens ein Rat, den du dringend befolgen solltest… Du hast den Mann verletzt. Also wird er Hilfe suchen, einen Arzt vielleicht. Und wo wird er den suchen?«, fragte der Alte, inzwischen ebenfalls nackt, und gab die Antwort gleich selbst: »In einer Stadt oder Siedlung. Und wenn er sich in dieser Gegend herumtreibt, weiß er vermutlich auch, dass es hier nur eine Ortschaft gibt.«
»Nameless«, sagte Strongtree.
»So ist es«, bestätigte Old Man und sagte dann, mit leiser Ungeduld: »Pack etwas zum Anziehen in den Beutel. Der Weg nach Nameless ist kein Katzensprung.«
Strongtree nahm Hemd, Hose und Mokassins aus dem kleinen Regal, in dem er seine wenigen persönlichen Sachen aufbewahrte, und legte sie zu den Kleidern des Alten in den Lederbeutel.
Wenig später hetzten zwei Wölfe durch den Wald. Der eine war tiefschwarz wie die Nacht, im Maul hielt er einen ledernen Beutel, das Fell des anderen war weiß, nicht einfach nur wie Schnee, sondern wie das Licht selbst.
***
Neben dem ungewöhnlichen Namen war das Bemerkenswerteste an Nameless, dass dieses Nest die Frage provozierte, warum sich Menschen ausgerechnet an diesem Ort in solcher Zahl niedergelassen hatten, dass letztlich ein Dorf daraus wurde. Dem Augenschein nach gab es nämlich nichts, was diese Ansiedlung hier mitten im Nirgendwo rechtfertigte oder auch nur begreiflich machte.
Darüber sann Royce Bane nach, als er Nameless erreichte und die vom letzten Regen noch etwas schlammige Main Street hinunterritt. Die Main Street war auch die einzige Straße in Nameless, die sich guten Gewissens als solche bezeichnen ließ. Es gab zwar noch eine Handvoll Abzweigungen, die linker wie rechter Hand abgingen, um sich aus der Lichtung, auf der Nameless lag, fortzuschlängeln und hinter den größtenteils farblosen Häuserreihen im Wald zu verschwinden, aber dabei handelte es sich ausnahmslos um morastige Pfade.
Vielleicht hatten sich hängen gebliebene Goldsucher an dieser Stelle angesiedelt, nachdem der große Goldrausch vorbei war, überlegte Bane. Vielleicht kamen gelegentlich noch neue hinzu, die mit großen Hoffnungen wer weiß wo aufbrachen und dann hier strandeten, enttäuscht, weil es das große Glück nicht mehr zu finden gab, und um wenigstens aus dem Netz der Flüsse und Bäche, das Nameless umspannte, hier und da noch ein paar Krümel Gold zu waschen.
Das Gros der Einwohner jedoch musste wohl von der Holzfällerei leben, denn etwas anderes als Holz gab es im weiten Umkreis von Nameless kaum,, nicht in solcher Hülle und Fülle jedenfalls, dass es eine Familie ernährt hätte, geschweige denn eine ganze Siedlung.
Beiderseits der Straße waren nur wenige Leute auf den hölzernen und
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