0751 - Gespenster der Nacht
den Augen, weil er noch genauer hinschauen wollte. Es blieb dabei. Die Gestalt war da. Sie hob sich deutlich genug vom Boden ab und sie kam langsam näher.
Harry hielt den Atem an. Er glaubte fest daran, sich jetzt nicht bewegen zu dürfen, um den anderen nicht auf sich aufmerksam zu machen. Irgendwo saß jemand, der die Regie in diesem Spiel übernommen hatte, denn die Gestalt blieb plötzlich stehen, als hätte sie eine Anweisung erhalten. Harry schaute noch genauer hin und war dabei froh, so dicht an der Hauswand zu stehen, dass er mit deren Schatten verschmolz.
Abwarten, lauern…
Wenigstens hatte er sehen können, dass es ein Mann war und keine Frau. Verrückt, daran zu denken, dass auch eine Frau…
Er verwarf den Gedanken wieder, denn plötzlich kam er sich vor wie auf dem Präsentierteller stehend, und es war, als würde jemand eine Bühne allmählich beleuchten.
Der Mond war in diesem Fall der Scheinwerfer. Er warf sein Licht in die Tiefe, der silberhelle Glanz glich einem großen Kegel, der alles überschwemmte. Auch die Gestalt, die stehen geblieben war und den Kopf schwerfällig nach rechts drehte, wobei sie ihn gleichzeitig nach hinten legte, um den Mond anschauen zu können.
Ein Auge! Bleich und unheimlich. Es glotzte nieder, es warf seinen Schein auf das Schloss und vor allen Dingen auf die Rückseite.
Harry hörte ein Stöhnen oder zumindest ein Geräusch, das ähnlich klang. Er dachte an seine Erfahrungen mit Vampiren und wie stark sie auf das Mondlicht fixiert waren.
Wieder dieser Mann.
Er spreizte die Arme, weil es so aussah, als hätte er Mühe mit dem Gleichgewicht. Er schien das Mondlicht zu trinken und sein Profil malte sich dabei wie ein blasser Scherenschnitt ab.
Stahl schaute genau darauf. Er kannte den Mann nicht, deshalb fiel ihm das blasse Gesicht auf. Das kam nicht allein durch das Mondlicht, da stimmte etwas nicht.
Was da nicht stimmte, sah er sehr bald, als sich die Gestalt schwerfällig umdrehte.
Sie öffnete den Mund weiter. Harry sah, dass etwas Bleiches, Helles aus dem Oberkiefer hervorwuchs. Nicht sehr stark oder lang, aber lang genug, um ihn erkennen zu lassen, dass es zwei Zähne waren.
Jetzt wusste er Bescheid. Vor ihm stand ein Vampir!
***
Harry Stahl tat nichts. Er war auch nicht einmal sonderlich überrascht, er hatte es ja kommen sehen, und trotzdem wurde er vom Schock getroffen, der tief in ihm saß.
Da schien sich die Klinge eines Messers in seinen Leib gebohrt zu haben, denn es war irgendwie schlimm, mit der ganzen Wahrheit konfrontiert zu werden.
Bisher hatte er es noch nicht glauben wollen, nun wusste er Bescheid. Diese Burg barg ein finsteres und schreckliches Geheimnis.
Viktor Maitland war für ihn, obwohl er ihn nicht kannte, der Chef der Blutsauger. Aber nicht nur des oder der zweibeinigen, auch der Boss über die zahlreichen Fledermäuse, die als schwarze, fettige Masse an der Rückseite klebten.
Der Kommissar kannte den Mann nicht. Er wusste auch nicht, in welch einem Verhältnis er zu Maitland stand. Diese Person war normal angezogen, wenn auch etwas schmutzig und mit wirren, dreckverklebten Haaren, aber sie gehörte zu den Mitgliedern des Schattenreichs, die aus ihrem Schlaf erwacht waren und nun auf der Suche nach dem kostbaren Lebenssaft der Menschen waren.
Der Mann wurde unruhig. Er blieb zwar auf dem Fleck stehen, dabei bewegte er sich trotzdem. Es waren vor allen Dingen seine Füße, die durch das Gras scharrten. Er duckte sich, er tat so, als wollte er gehen, blieb aber stehen, drehte sein Gesicht wieder dem vollen Mond zu und schaute nicht mehr in Harrys Richtung.
Der hatte bisher bewegungslos gestanden, den Rücken gegen die Hauswand gedrückt. Nur allmählich erwachte er aus seiner Starre, als er den rechten Arm mit der Waffe anhob. Er wollte den Blutsauger erst gar nicht bis in seine Nähe kommen lassen und einfach kurzen Prozess mit der geweihten Silberkugel machen.
Zielen und schießen!
Er visierte die Gestalt an, die ihm sogar einen Gefallen tat, indem sie sich umdrehte und ihm somit seine Körperfront darbot. Da konnte er einfach nicht daneben schießen.
Der Zeigefinger berührte bereits den Stecher. Er war darauf geeicht, ihn durchzuziehen, als sich innerhalb einer Sekunde alles änderte. Über ihm geriet die Wand plötzlich in Bewegung. Auf einmal war die Wolke da, er hörte das Schlagen der Flügel und wusste Bescheid. Die Masse der Fledermäuse war aus ihrem Schlaf erwacht.
Jetzt würden die Tiere die Nacht
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