0768 - Lady Bluthaar
richtete sich auf, erschrak, dann nicht mehr, weil ich freundlich grüßte und auch lächelte.
»Bitte…«
Ich erkundigte mich nach Marion Hayle, erntete bei ihr jedoch keine Reaktion. Sie rief mit lauter Stimme etwas nach hinten. Sehr bald hörte ich Schritte. Ein dürrer Mann erschien, der ein leeres Tablett in der rechten Hand hielt.
Ich erklärte ihm, wen ich sprechen wollte. Der Mann ließ mich ausreden, bevor er lachte und nickte.
Ich war beruhigt.
Dann durfte ich mich auf einen schwarz eingefärbten Korbstuhl setzen, und schon sehr bald erschien auf der schmalen Treppe eine blonde junge Frau, die weiße Jeans und eine bunte Fleckenbluse trug.
Sie hatte sich fröhlich angezogen, doch sie selbst machte keinen fröhlichen Eindruck. Auf mich wirkte sie bedrückt.
Ich erhob mich. »Marion Hayle?«
»Ja.«
»Ich bin John Sinclair.«
Sie blieb stehen, schloß die Augen. Ich sah, wie sie aufatmete. Ihre Lippen zuckten. Es sah so aus, als wollte sie anfangen zu weinen, allerdings vor Erleichterung.
Sie riß sich zusammen und reichte mir die Hand. Ihre Haut war verschwitzt, vielleicht auch vor Aufregung.
»Setzen Sie sich doch.«
Steif nahm sie Platz und sagte dann: »Ich finde es toll, daß Sie so schnell gekommen sind, Mr. Sinclair.«
»Sie können John zu mir sagen.«
»Danke.«
»Klar, ich bin gekommen.« Es war so etwas wie ein Alarmruf, der uns erreichte.
Sie senkte den Blick. »Bitte, John, verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich hatte es mit Suko abgesprochen.«
»Es sollte auch kein Vorwurf gewesen sein. Im Gegenteil, ich finde es richtig, denn auch ich mache mir Sorgen um meinen Freund und Partner. Zunächst eine Frage vorweg. Sie haben auch heute nichts von ihm gehört?«
»Nein.«
»Das ist schlecht.«
»Finde ich auch.« Sie schaute auf ihre zusammengelegten Hände. »Sind Sie über den Fall informiert, John?«
»Nicht in allen Einzelheiten. Ich weiß nur, daß es um eine Person geht, die dem Meer entsteigt, junge Männer anlockt, die dann ertrinken. Eine Art Sirene, wie man sie auch von einer Rhein-Legende her kennt, der Loreley.«
Marion nickte mir zu. »Ja, das ist die Geschichte, der auch Tom Ward zum Opfer fiel.«
»Wer ist Tom?«
»Mein Freund.«
»Und er ist verschwunden.«
Marion bekam feuchte Augen und hatte Mühe, die Tränen zu unterdrükken. »Nein, ich glaube nicht, daß er nur verschwunden ist, John. Tom ist tot. Er ist ertrunken, er ist in die Fänge dieser fürchterlichen Person geraten…«
»Haben Sie die Frau gesehen?«
»Ja, schwach nur. Da war es zu spät. Sie war eine Erscheinung, die über den Wellen schwebte. Sie steigt aus den Fluten und fasziniert die Männer so sehr, daß diese gar nicht anders können, als ihr zu folgen.«
»Auch Suko?«
»So muß es gewesen sein.«
»Ja«, sagte ich, »ja…« Ich überlegte. »So, wir haben zwar nicht viel Zeit, nehme ich an, doch ich möchte die Geschichte gern von Anfang an hören.«
»Das können Sie.«
In den folgenden Minuten war ich nur der Zuhörer. Ich erfuhr, was es mit dieser ungewöhnlichen Person auf sich hatte und daß sie eine Gestalt aus der Geschichte gewesen war.
Sie war die Geliebte eines französischen Königs gewesen, der ihrer dann überdrüssig geworden war und sie, zusammen mit zahlreichen Pestkranken, auf ein Schiff hatte bringen lassen. Es sollte die Kranken zu einer der Inseln bringen. Ein Sturm jedoch hatte das Schiff zum Kentern gebracht. Der Sage nach waren die Pestkranken durch die Strömung dennoch an ihr Ziel gelangt, wo ihr Blut die einst grauen Felsen der Insel schwarz gefärbt hatte. Das war die Legende.
»Und was ist mit der schönen Isabella?« fragte ich.
»Um sie drehte sich eine andere Geschichte oder Sage.«
»Welche?«
Marion räusperte sich. Sie hatte zwischendurch für sich und mich Kaffee bestellt. Das Mädchen, das auch putzte, brachte uns die großen Tassen.
Wir tranken langsam, während sich der kleine Raum hier unten allmählich mit dem Licht der Sonne füllte.
Marion Hayle stellte die Tasse ab. »Die ganze Sache ist die, und meiner Ansicht nach beruht sie ebenfalls auf einer Legende: Wie ich hörte, ist der König seiner Geliebten deshalb überdrüssig geworden, weil sie ihm über den Kopf wuchs, wie man so schön sagt.«
Ich lächelte. »Heißt das, daß sie Macht über ihn erlangt hat?«
»So kann man es ausdrücken.«
Ich behielt mein Lächeln bei. »Das ist nichts Ungewöhnliches. Viele Frauen haben Macht über ihre Männer, Freunde und Gatten.
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