077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
was er aus dem alten Trottel herausholen kann.
Jeannine sieht Leggatt vor sich, und wieder sind die großen Zweifel da. Der Doktor war überdies überrascht, daß keine Vergewaltigung vorlag. Im allgemeinen ist dies der Hauptgrund, wenn eine junge Frau entführt wird. Nun fragt sie sich, ob sie das jemals befürchtet hat. Sie erinnert sich: sie hat daran gedacht, aber befürchtet? Nein.
Es sieht so aus, als wollte man sie wieder nach Hause schicken. Sie ist nicht krank, weder physisch, noch psychisch. Wenn sie daran denkt, steigt wieder Furcht in ihr hoch. Denn es scheint ihr, als existierte nichts Reales oder Echtes mehr rund um sie.
Die Krankenschwester kommt und mißt ihre Temperatur. Jeannine mag sie nicht besonders. Sie hat ein hartes Gesicht und brutale Methoden. Entweder sie hat kein Herz, oder sie hat es dermaßen gut unter ihrer Tracht verborgen, daß man es auch bei genauem Suchen nicht entdecken kann. Sie ist etwa dreißig und hat Lippen, so dünn wie zwei Striche. Es sieht so aus, als würde sie Jeannine ein wenig verachten, weil sie nur Serviererin ist. Die Klinik Doktor Morestiers nimmt sonst nur ausgewählte Patienten.
Jeannine hat kein Fieber.
„Sechsunddreißigvier.“
„Ich bin nicht mehr krank?“ fragt Jeannine.
„Sie waren nie krank. Sie hatten einen schweren Nervenschock, aber es hat den Anschein, als hätten Sie ihn gut überstanden.“
„Ich hatte vor allem Angst.“
„Das hat man bemerkt!“
Jeannine blickt sie von der Seite an; sollte die Schwester eine menschliche Regung zeigen? Jeannine glaubt sogar ein feines Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen.
Die Schwester verläßt das Zimmer, als Dr. Morestier eintritt.
„Nun? Wie geht’s unserer kleinen Kranken?“
„Die Schwester sagt, ich habe kein Fieber mehr.“
„Sehr gut.“
Morestier zieht einen Sessel an Jeannines Bett.
„Ich habe mit Kommissar Fauchard gesprochen“, sagt der Arzt.
Jeannines Herz beginnt zu klopfen.
„Er hat Leggatt gefunden.“
„Ja?“
„Ich muß Sie enttäuschen, Jeannine. Vermutlich war es nicht er, der Sie entführt hat!“ Er sieht sie an. „Zumindest ist das die Meinung des Kommissars.“
Sie hat es erwartet. Sie war ganz sicher, daß es so kommen würde. Und nun ist alles verloren. Nicht weil es von besonderer Bedeutung wäre, ob Leggatt unschuldig ist oder nicht, sondern automatisch wird ihr klar, was es für sie bedeutet, wenn der Beweis erbracht wird, daß er unschuldig ist.
Die Tränen rinnen über ihre Wangen. Morestier greift nach ihrer Hand und tätschelt sie sanft.
„Na … na … nun regen Sie sich nicht auf. Es ist nur seine persönliche Meinung, Jeannine! Ich habe lange mit dem Kommissar gesprochen; ist es nicht Leggatt, so ist es ein anderer, und die Nachforschungen werden weitergeführt…“
„Aber wenn es nicht Leggatt ist“, schluchzt sie und blickt auf. „Es muß Leggatt sein! Es wäre furchtbar, wenn er es nicht war!“
„Weniger furchtbar als Sie glauben, Jeannine. Der Kommissar hat seine Theorie, und ich habe die meine. Ohne Zweifel ist Ihre Geschichte sehr unglaublich, aber vielleicht nur deshalb, weil wir sie einfach nicht verstehen.“
Er lächelt. „Vielleicht verstehen Sie sie selber nicht?“
Was will er damit sagen? Wenn Morestier in der Nähe ist, dann scheint ihr alles viel leichter und weniger bedrohlich. Das erstemal hat Jeannine nicht das Gefühl, nur Feinden gegenüberzustehen.
„Offensichtlich haben Sie in Saint Prix den Eindruck gewonnen, Leggatt vor sich zu haben, aber, um mit den Worten des Kommissars zu sprechen, es gibt konkrete Hinweise, daß er es nicht war.“
Jeannine unterbricht ihn nicht.
„Trotzdem bleibt Fauchard Leggatt auf der Spur, ich sage Ihnen das, damit Sie sehen, daß wir Ihnen vertrauen. Aber ich möchte, daß Sie gemeinsam mit mir eine andere Möglichkeit prüfen. Nehmen wir an, es sei tatsächlich nicht Leggatt gewesen, und blicken wir unter einem anderen Gesichtspunkt auf den ganzen Fall.“
„Ja“, sagt sie leise, als er sie abwartend anblickt.
„Außerdem haben Sie doch selbst in Ihren Aussagen einen gewissen Zweifel, was Leggatt betrifft, offengelassen.“
„Als ich ihn in Saint Prix sah“, sagt sie und trocknet die Tränen. „da erkannte ich ihn sofort wieder – nur schien er mir stark verändert, nicht nur in seiner Kleidung, sondern auch in seiner Art zu sprechen, in seinem Benehmen…“
„Sagen wir, er hatte plötzlich eine veränderte Persönlichkeit?“
„Ja, genau
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