0777 - Phantom aus der Vergangenheit
früher.
Nur die Gegend blieb. Sie sah aus wie immer im Herbst. Sie war hügelig und öde zugleich. Hin und wieder standen Bäume auf den Hügeln, auch zwei, drei Waldstücke sah sie in der Ferne wie dunkle Inseln liegen. Die Straße zog sich als nasses, graues Band durch die Landschaft und wand sich dabei, als wäre sie eine Schlange. Irgendwann würde sie auch an dem Haus vorbeiführen. Noch drei Kurven, dann konnte sie bereits einsehen.
Der Mini schnurrte davon. Schwer und bedrückend lag der Himmel über ihm. Eine Decke aus grauen Schichten, die nicht das geringste Sonnenlicht durchließ.
So etwas drückte aufs Gemüt. Sensible Menschen hassten dieses Wetter, der Goldene Oktober war längst dahin. In knapp zwei Wochen begann der November, der Monat der Trauer, und er wiederum kam ihren Gefühlen gleich, die sie spürte.
Sie sah die Scheune und fuhr unwillkürlich langsamer. Ihre Hände umkrampften das Lenkrad. Sie holte tief Luft, doch es wollte kein befreiender Atemzug werden, denn auf eine gewisse Art und Weise lag ein Schatten auf der Welt.
Doris hielt an. Zwei Räder berührten bereits den nassen Streifen neben der Straße. Ihr Blick glitt der Scheune entgegen. Das Gebäude sah noch dunkler aus als sonst. Es passte sich der traurigen Landschaft an. In seinem Graubraun und dem weit vorgezogenen Dach wirkte sie wie ein kantiges Monster, das sich vor den Schrecken der Natur ducken wollte.
Schwarze Vögel segelten durch die Luft. Weit hinter der Scheune und auf der höchsten Stelle eines Hügels stand ein kahler Baum, der aussah wie ein Gerippe. Sie hatten ihn deshalb Totenbaum genannt.
Er war so tot wie die Landschaft.
Doris Clinton fror. Sie ließ die Windjacke trotzdem im Wagen, denn die Kälte drang mehr aus ihrem Innern. Sie schaute gegen das Haus und versuchte, dort etwas zu entdecken, das sie als eine Unregelmäßigkeit bezeichnen konnte.
Nein, es gab nichts.
Alles sah aus wie immer.
Dennoch blieben der Druck und die Angst. Hitzewellen lösten sich mit Kälteschauern ab. Die Vernunft sagte ihr, rasch zu verschwinden, doch es gab noch eine andere Kraft, die nicht von dieser Welt war und von IHM kam. Diese Kraft wollte, dass sie blieb und auch näher kam.
Ein Windstoß erfasste sie, als hinter ihr ein Wagen vorbeirauschte.
Für einen Moment schaute sie dem Fahrzeug nach, dann drehte sie sich um und stieg wieder in ihren Mini.
Doris musste hin – Doris musste hin!
Sie hämmerte die Tür zu. Das dumpfe Schwappen beruhigte sie keineswegs. Selbst in ihrem eigenen Wagen kam sie sich wie eine Gefangene vor. Sehr langsam fuhr sie weiter, denn der schmale Feldweg zum Haus hin zweigte sehr bald von der Straße ab.
Sie rollte hinauf und sah vor sich die beiden schmalen Fahrspuren, rechts und links eines Grünstreifens.
Die Erde war weich. Pfützen blinkten wie dunkle Augen. Manchmal schimmerten Ölflecken auf dem Wasser. Der Wagen schaukelte auf dem unebenen Boden weiter. Die Reifen rollten durch die Pfützen und schaufelten das Wasser in die Höhe.
Die Spannung wuchs mit jedem Yard, den sie zurücklegte. In ihr tickte ein Metronom immer schneller. Es machte sie an, es peitschte sie voran, und der Schweißfilm auf ihrer Stirn wurde nicht dünner.
Das Haus nahm an Breite und Höhe zu. Es war dunkel. Handwerker hatten es mit schwarzer Teerfarbe angestrichen, sodass es den unterschiedlichen Witterungen standhielt. Es sollte auf keinen Fall zusammenbrechen, es wurde noch gebraucht, und als sie wieder mit dem Gaspedal spielte, da bekam der Mini noch einmal einen Schubs nach vorn, als könnte er es kaum erwarten, dem Monster zu begegnen.
Kein anderes Fahrzeug stand vor dem Haus. Sie fuhr sehr nahe heran, stoppte und stieg aus.
Diesmal allerdings mit zitternden Knien. Der Druck im Kopf war auch nicht geringer geworden, und auf den Handflächen lag nach wie vor der kalte Schweiß.
Sie hämmerte die Tür zu.
Das laute Geräusch ließ sie zusammenzucken. Im und am Haus rührte sich nichts. Es lag unter einer Glocke des Schweigens, und der Begriff Totenstille passte da schon besser.
Sie schaute gegen die kleinen, quadratischen Fenster. Auch hinter ihnen zeigte sich keine Bewegung. In der Scheune lastete eine dumpfe Stille, und sie war wie ein Omen.
Gefährlich für sie…
Doris Clinton suchte vergeblich nach einer Spur von Leben. Es war nichts vorhanden. Die Scheune und die Gegend hatten sich irgendwie verabschiedet. Sie waren tot, verloren. Sie siechten dahin, und keiner ihrer Freunde ließ sich
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