0783 - Der Tunnel
wirklich kein Mord?
»Bitte, John, Freund…«
Was sollte er noch in dieser Welt jetzt, wo sein Geheimnis gelüftet war?
Ich schwankte bereits.
»Tu es doch, ich flehe dich an…« Er meinte es ernst, sehr ernst sogar, denn er sackte zusammen und kroch auf seine Waffe zu. Er wollte sie nehmen.
Ich ließ ihn und starrte ins Leere. Sollte ich diese Tat wirklich begehen?
Lomenius stand wieder auf. Mit langsamen Bewegungen kam er in die Höhe, seine Waffe hielt er fest. Beide Hände hatte er um den Griff geklammert, die Spitze zeigte nach unten. Sie schwebte nur eine Handbreit über dem Boden.
Er kam auf mich zu, und im Schein der Lampe sah er aus wie ein skelettiertes Gespenst. Da war eine neue Haut gewachsen, sehr dünn und bleich. Die mächtige Kraft eines anderen Reiches hatte ihn so lange »leben« lassen.
Er blieb stehen. »Bitte…«
Ich konnte nicht anders, ich musste die Waffe anfassen, denn er hielt sie mir hin. Da ich nicht zur Seite ging, berührte sie mich sogar.
Ich nahm sie.
»Und jetzt schlage mir bitte den Kopf ab!«, flüsterte er. »Dann endlich kann ich mit meinen Freunden vereint sein. Für mich, für meinen Geist steht das Tor nach Avalon weit offen, ganz weit…«
Ich ging einen Schritt zurück. Ja, ich würde es tun, ich hatte mich dazu entschlossen, aber ich kam mir dabei auch vor wie ein Henker, und ich tat es nicht gern.
Ich steckte die Stableuchte in meinem Gürtel so fest, dass der Strahl schräg in die Höhe fiel und auch die Gestalt des John Mark Lomenius erfasste.
Beide Hände umklammerten den Waffengriff.
Ich holte Luft.
Noch einmal schaute ich in das Gesicht meines Gegenübers und auch in dessen Augen.
Darin las ich eine wahnsinnige Freude auf die Zukunft.
Das gab bei mir den Ausschlag.
Ich schlug zu!
***
Während ich ausholte, hatte ich meine Augen geschlossen, weil ich einfach meiner eigenen Tat nicht zuschauen konnte.
Ich traf genau, spürte für einen Moment den Widerstand, dann war er weg.
Ich öffnete die Augen.
Vor mir sah ich den kopflosen Körper. Im hellen Licht wirkte er besonders makaber. Er schwankte, und ich ließ die Waffe sinken.
Automatisch zog ich die Lampe aus dem Gürtel und leuchtete dorthin, wo der Kopf meiner Ansicht nach liegen musste.
Dort sah ich ihn auch.
Mit dem Gesicht nach oben, mit Augen ohne Glanz und mit Rissen in der Haut, die anfingen, sich allmählich zu vergrößern. Ich wusste, dass dieses Gefühl zusammenbrechen würde, denn beim Körper, der inzwischen gefallen war, trat der gleiche Effekt ein.
Die Waffe warf ich weg. Ich wollte sie nicht mehr. Ich fühlte mich nicht gut, aber tief in meinem Innern sagte mir mein Gewissen, dass ich genau das Richtige getan hatte.
Es ging immer weiter, das Leben lief fort, auch für mich, und ich hatte endlich wieder einen Teil im gewaltigen Mosaik des Schicksals gefunden.
Ich wusste nun, dass der letzte Großmeister der Templer in der Gestalt eines Skelett-Sessels weiterlebte.
Ein Irrsinn, mit dem ich in Zukunft zurechtkommen musste. Das alles strahlte mir durch den Kopf, als ich mich auf den Rückweg machte und dann den normalen Stollen verließ.
Ed Halloran hatte gewartet. Er fror, er schaute mich an. Fragen lagen auf seiner Zunge, aber er stellte nur eine, die ihm am wichtigsten erschien. »Was ist denn? Was machen wir jetzt?«
Ich lächelte ihn schwach an. »Nach Hause«, sagte ich. »Wir fahren nach Hause…«
ENDE
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