0783 - Der Tunnel
dass ich mein Gönner de Molay in viele Geheimnisse eingeweiht habe. Unter der Folter wurde mein Körper geschunden, aber mein Geist konnte sich befreien. In den Pausen zwischen diesen schrecklichen Vorgängen erinnerte ich mich an die mir auf den Weg mitgegebenen Mysterien, und ich versuchte, sie um Hilfe zu bitten. Die Ritter stellten sich nicht taub. Ich hatte den Kontakt bekommen, ich flehte sie um Hilfe an, und sie kamen. Meinetwegen haben sie die Nebelinsel verlassen. Sie kamen als mächtige Geistwesen, sie fegten wie ein Sturmwind über die Folterknechte hinweg, und sie zerstörten sie.«
Ich atmete schnaufend aus. »Dadurch bist du gerettet worden, nehme ich an.«
»Ja, ich war gerettet und lebte auch. Aber wie ich lebte, das war schrecklich. Ich wollte ebenfalls auf die Insel gelangen, aber die Ritter taten mir den Gefallen nicht. Sie sprachen davon, dass ich nicht reif genug wäre, dass meine Zeit irgendwann kommen würde, und zwar in ferner Zukunft. Jahrhunderte würden vergehen, bis es soweit war. Der Geist der Nebelinsel würde währenddessen meinen Körper halten. Sosehr ich auch bettelte und flehte, sie ließen sich auf nichts ein, ich aber blieb allein zurück an der Stätte meiner Folter, in einer gewaltigen Höhle, die du ebenfalls kennen gelernt hast. Ich erhielt eine Waffe von ihnen, um mich verteidigen zu können. Es tut mir Leid, dass ich dich damit berührt habe, aber ich wusste noch nicht, wie wir uns gegenüberstehen würden, denn vor kurzer Zeit ist schon jemand gekommen, der nicht zu meinen Freunden zählte.«
»Ich kenne ihn.«
»Ich hätte ihn vielleicht töten müssen.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Weil ich es nicht konnte und mich nicht mit den anderen auf eine Stufe stellen wollte. Nun aber spüre ich, dass die Zeit gekommen ist, um endgültig von diesem zu langen Leben Abschied zu nehmen. Ich stehe bereits in einer Zwischenstufe, ich bin weder Mensch noch Geist, aber ich spüre unter meinen Füßen die Brücke nach Avalon, wo ich in den Kreis der Gerechten aufgenommen werde und auch das rätselhafte Grab des König Artus besuchen kann. So hat sich das Versprechen der Ritter erfüllt, und zwar durch eine Person, die denselben Vornamen trägt wie ich.«
»Dann soll ich dich töten?«
»So darfst du es nicht nennen. Erlösen ist das richtige Wort. Ich muss hin, ich will nicht mehr länger leiden. Andere sollen meinen Kampf aufnehmen, und ich denke, dass du dazu der richtige Mann bist, John Sinclair.«
Ob ich das nun war oder nicht, wollte ich dahingestellt sein lassen, mir ging es um ganz andere Dinge. Ich suchte Avalon, ich suchte auch meinen Freund Suko und den Abbé. Ich wusste auch nicht, ob sich mir die Gelegenheit noch einmal bot, über Glastonbury nach Avalon zu gelangen, das war alles viel zu vage, und ich hatte mich schon längst mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass sich hier eine Chance bot. Deshalb sagte ich: »Nimm mich mit nach Avalon!«
»Nein!«
»Doch, ich will…«
»Es darf niemand hinein, der…«
»Das weiß ich nicht so genau. Die Zeiten haben sich geändert. Zwar existieren die alten Regeln und Gesetze noch, doch manches ist anders geworden. Ich habe Avalon erlebt, ich habe eine Freundin dort, ich habe den Zauberer Merlin gesehen, und ich muss zwei meiner Freunde wieder zurück in diese Welt holen.«
»Es geht nicht.«
»Dann werde ich einen anderen Weg suchen.«
»Welchen?«
»Ich bin der Besitzer eines Sessels, der aus Knochen besteht und…«
Es gelang mir nicht mehr, weiterzusprechen. Mit einer heftigen Bewegung fuhr er in die Höhe. Aus seinem Mund löste sich ein wilder, gellender Schrei. »Der Sessel, du kennst den Sessel…« Er brach ab.
Es hörte sich an, als würde er schluchzen.
Seine Reaktion hatte mich aus dem Konzept gebracht, und ich fragte mich, weshalb er überzogen handelte. Dann aber dachte ich weiter und gleichzeitig auch zurück.
Ich erinnerte mich daran, wie sehr ich mich angestrengt hatte, um herauszufinden, wer die Gestalt gewesen war, aus der jetzt der Skelett-Sessel bestand.
Eine Antwort hatte ich bisher nicht bekommen, nun aber sah es anders aus. Die Reaktion des John Mark Lomenius ließ darauf schließen. Er musste etwas über den Sessel wissen.
»Kennst du ihn?«, fragte ich.
Bestimmt hatte er meine Frage gehört, aber er gab noch keine Antwort, sondern drehte sich auf der Stelle und sah aus, als wäre für ihn eine Welt zusammengebrochen. Ich ließ ihn in Ruhe. Es dauerte schon eine Weile, bis er sich
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