079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
jeden Wunsch
von den Augen ab. Und doch mag ich ihn nicht. Ist das nicht seltsam?"
„Madame!" hauchte Morna und tat, als wäre sie schockiert über
das, was man ihr da anvertraute.
„Ja, Morna, Sie haben richtig gehört. Und es ist Ihnen wohl auch
kaum entgangen, daß trotz aller scheinbaren Gutmütigkeit und Stille in unserem
Haus ein gespanntes Verhältnis herrscht. Ich werde mich von meinem Mann
trennen."
„Aber Madame . . ."
„Doch, Morna." Sie lächelte verbittert. „Es muß sein. Jetzt
weiß ich es. Ich quäle mich seit Wochen und Monaten. Jetzt ziehe ich die
Konsequenzen." Während sie so sprach, beobachtete Morna sie ganz genau.
Sie wirkte reifer, entschlossener.
„Sie sind so alt wie ich und noch unverheiratet. Lassen Sie sich
einen Rat geben von einer Frau, die sich mit einem Male uralt fühlt: Heiraten
Sie niemals einen Mann, den Sie nicht lieben. Auch wenn er noch so reich ist.
Und vor allen Dingen: keinen Mann, der um so vieles älter ist."
„Da muß ich Ihnen widersprechen, Madame. Man hört, daß viele Ehen
gutgehen, trotz eines beachtlichen Altersunterschiedes zwischen Mann und
Frau."
„Mag sein. Bei mir klappt es nicht. Ich hasse den Greis. Und auch
sein Geld. Ich will nicht mehr in dem Haus leben, in dem er lebt. Ich will
nicht mehr die gleiche Luft atmen."
Starke Worte. Morna glaubte, nicht richtig zu hören.
Virginie de Ayudelle griff nach ihrem Glas, trank den Rotweinrest
in einem Zug und füllte sich das Glas sofort wieder auf.
„Eins verstehe ich nicht, Madame", bemerkte Morna
nachdenklich.
„Was verstehen Sie nicht?"
„Von einer anfänglich märchenhaften Begeisterung kann doch nicht
einfach gar nichts mehr übrigbleiben."
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, weil der Ober kam
und den ersten Gang brachte. Madame de Ayudelle rührte mechanisch in ihrem
Suppenteller.
„Wenn ich zurückdenke, kommt mir alles vor wie ein Traum — oder
wie ein Film. Ich war nicht wirklich da bei. Jetzt, nach dieser langen
Zeitspanne, weiß ich, daß es ein Fehler war, Edouard de Ayudelle mein Jawort zu
geben. Da war ein anderer, Gilbert Seniff. Ich habe ihn sehr geliebt. Aber mit
einem Male war er aus meinem Leben verschwunden, und ich habe nichts mehr von
ihm gewußt - bis gestern morgen."
„Da haben Sie ihn wiedergesehen?"
„Nein. Da ist mir sein Name wieder eingefallen. Und vieles andere
mehr. Und deshalb ist mir das Ganze unheimlich. Kann man einen Menschen
jahrelang vergessen? Ist das normal? Oder sollte ich ihn vergessen, Morna?
Manchmal kommt es mir so vor, als sei meine Erinnerung an früher absichtlich
blockiert gewesen. Vielleicht durch Hypnose. Und nun läßt die Wirkung nach —
und ich fange langsam an zu begreifen. . ."
Die Worte von Madame de Ayudelle gingen der Schwedin noch durch
den Kopf, als sie bereit wieder im Hause waren und Madame sich auf ihr Zimmer
zurückgezogen hatte.
Eine Veränderung war eingetreten. Und daß die Dinge einem neuen
Höhepunkt zustrebten, erkannte sie spätestens in dem Augenblick, als mit
Einbruch der Dunkelheit Virginie de Ayudelle ihr Zimmer verließ.
Morna hörte die Tür klappen. Die Agentin schlich aus dem Zimmer.
Im Schatten auf der obersten Treppenstufe stehend, blickte sie
nach unten.
Virginie de Ayudelle trug das buntgemusterte Kostüm vom Mittag.
Sie hatte keine Tasche und keine Autoschlüssel bei sich. Die Fabrikantenfrau
verließ das Haus.
Sie passierte den breiten, zum Tor führenden Weg, bog dann nach
rechts ab und ging die Straße hinunter.
Wiederholte sich in diesem Moment das, was sich auch vor fast vier
und vor sieben Jahre ereignet hatte und wovon es Zeugenaussagen gab?
Die damaligen Gattinnen des greisen Fabrikanten legten ein
ähnliches Verhalten an den Tag, das sich später niemand erklären konnte.
Vernahm Virginie de Ayudelle in diesem Augenblick den lautlosen,
gespenstischen Ruf jene Macht, dem auch die anderen Frauen folgten?
Dann hatte das lange Warten sich doch gelohnt. Dann trat das ein,
was die PSA-Leitung vermutet und erhofft hatte.
Morna war bereit.
Sie folgte Virginie de Ayudelle auf dem Fuß.
●
Das Telefon schlug an.
Larry griff nach dem Hörer und meldete sich.
X-RAY-3 befand sich im Zimmer seines Hotels und arbeitete sich
durch den Wust von Papier, den er aus dem Büro Marcel Tolbiacs mitgenommen
hatte.
Larry war im gleichen Hotel untergebracht wie die Inderin.
Er hatte absichtlich hier sein Domizil aufgeschlagen, um jederzeit
mit Sheherezade konferieren zu
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