0793 - Als der Engel Trauer trug
Vogel?
Wenn ja, dann musste es ein großer sein. Ich konzentrierte mich auch weiterhin auf Suko. Er hob seinen rechten Arm. Zuerst langsam, dann blitzschnell, und einen Moment später stach sein Zeigefinger vor. Er deutete in eine bestimmte Richtung.
Auch Drugg und ich schauten hin.
Noch immer sahen wir den Dunst wie ein bleiches, gewaltiges Zelt über dem Friedhof liegen. Er vermischte sich mit den Wolken zu einer grauen Brühe, aber durch sie hindurch bewegte sich ein schattenhaftes Wesen – ein Vogel.
»Der ist groß«, hauchte Drugg.
Wir sagten nichts, denn uns kam er nicht wie ein Vogel vor. Ich dachte sofort an die Beschreibung des Vertreters. Was da über uns durch die neblige Luft segelte, war genau das Wesen, das er uns so haarklein beschrieben hatte.
Der Engel mit der Fratze eines Dämons und den Schwingen eines Drachen!
***
Das Gasthaus gehörte zwar nicht zu den Top-Hotels, aber die Zimmer waren ordentlich, und in der Etagendusche konnte sich Pete Ashley endlich den Schmutz vom Leib waschen. Zudem war er der einzige Gast in diesem Haus. Er hatte zuvor noch mit seiner Firma telefoniert und erklärt, dass es ihm schlecht ginge und sich seine Besuche um zwei Tage verzögern würden. Da er ein guter Mitarbeiter war, hatte man es akzeptiert, ihm allerdings nahe gelegt, sich besonders anzustrengen, und das hatte Ashley auch versprochen.
Das Wasser war heiß. Es prasselte auf seine Haut und rötete sie. Er stellte das kalte Wasser ein, fror dann und hatte Mühe, die richtige Temperatur einzustellen.
Schließlich gelang ihm auch das, er war zufrieden, seifte sich ein und dachte natürlich über seine jüngste Vergangenheit nach. In der Polizeistation hatte er sich sicher und geborgen gefühlt, besonders dann, als die beiden Männer vom Yard eingetroffen waren. Sie hatten auf ihn einen vertrauenerweckenden Eindruck gemacht, und er konnte sich vorstellen, dass diese beiden den Fall schon knacken würden.
Einen Bademantel nahm er immer mit sich. Nach dem Duschen wickelte er sich darin ein und verließ den kleinen Raum am Ende des Gangs. Draußen war es trübe, und dies wiederum setzte sich im Innern des Gasthofs fort. In der großen Gaststube selbst hatte er noch einen Kaffee getrunken und etwas gegessen. Das Sandwich lag ihm jetzt wie Blei im Magen. Er fühlte sich überhaupt nicht gut und dachte daran, einen Schnaps zu trinken.
Der Gang hier oben in der ersten Etage war ebenso mit einem langen Sisalläufer ausgelegt wie die Treppe im Erdgeschoss.
Dort, wo die Treppe begann, stand jemand.
Die Gestalt war so plötzlich erschienen, dass sich der Vertreter erschreckte. Er schaute hin und stellte fest, dass es eine Frau war.
Auch aus der Entfernung sah sie außergewöhnlich aus. Sie trug das lange, helle Haar offen, und Pete zwinkerte, weil ihn diese Person an jemand erinnerte. Er konnte allerdings nicht genau sagen, an wen, außerdem war er zu weit von ihr entfernt, und die Lichtverhältnisse im Flur konnten auch nicht als optimal angesehen werden.
Es war ihm auch egal. Da er an den nackten Beinen fror – der Bademantel reichte ihm kaum bis an die Knie – wollte er so rasch wie möglich wieder in sein geheiztes Zimmer.
Vor der Tür drehte er sich noch einmal nach links.
Die Frau war weg!
Pete Ashley schluckte und fuhr durch sein nasses Haar. Das war ein Ding, er hatte nichts gehört. Es war wie in der Nacht gewesen, als die geisterhafte Gestalt mit dem Kind plötzlich am Straßenrand gestanden hatte.
Aber die hier war kein Geist gewesen, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Etwas stimmte nicht mehr. Trotz der heißen Dusche spürte er den kalten Schauer auf seinem Rücken. Da rann etwas hinab, was kein Ende nehmen wollte, und die Furcht nagte an ihm wie die Klinge eines Messers, die den Magen durchstoßen hatte.
Er drückte seine Tür auf und betrat sein zum Glück leeres Zimmer. Man konnte nie wissen, welche Überraschungen es noch gab.
Sehr schnell lief Pete zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Als er auf dem Gang Schritte hörte, lief er wieder zurück, öffnete die Tür – und erschreckte sich ebenso wie das junge Mädchen, das einen Wagen vor sich herschob, auf dem Putzutensilien standen, aber im unteren Fach auch Alkoholika lagen. Kleine Flaschen mit Whisky und Gin.
Pete atmete auf. »Kann ich… kann ich … eine Flasche kaufen?«
»Ja, Sir, was bitte?«
»Gin und Whisky.«
»Gut.« Sie gab ihm die Flachmänner. »Soll ich es auf Ihre Rechnung schreiben lassen?«
»Ja, das
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