08-Die Abschussliste
Panzergranaten, Raketen oder Pak-Granaten ihn gar nicht erreichen können. Er hockt einfach da und sieht zu, wie die feindlichen Geschosse weit vor
ihm einschlagen. Dann dreht er seine gewaltige Kanone und schießt, und eine Sekunde später fliegt in anderthalb Meilen Entfernung sein Gegner in die Luft und brennt aus.
Der erste Panzer rasselte an uns vorbei. Drei Meter fünfunddreißig breit, sieben Meter dreiundfünfzig lang und zwei Meter neunzig hoch. Siebzig Tonnen schwer. Seine Gasturbine röhrte, und sein Gewicht ließ den Boden erzittern. Seine Gleisketten quietschten, rasselten und rutschten auf dem Beton. Dann rollte der zweite Panzer vorüber. Und der dritte, vierte und fünfte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Kanonenrohre wippten, schwankten und hüpften. Auspuffschwaden hüllten uns ein.
Die Kolonne bestand aus insgesamt zwanzig Panzern. Sie fuhren durchs Tor. Dann entstand eine Lücke, bis ein Panzerspähwagen aus dem Nebel auftauchte. Ein mit einer Panzerabwehrrakete TOW-2 bewaffnetes Humvee, das als Panzerjäger zuschlagen und rasch wieder verschwinden konnte. Vorn saßen zwei Männer. Ich trat auf die Straße hinaus und hob eine Hand, um es anzuhalten. Runzelte die Stirn. Ich kannte Marshall nicht, hatte ihn nur einmal vor dem Stabsgebäude in Fort Bird im dunklen Inneren eines Grand Marquis gesehen. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass keiner der beiden Fahrzeuginsassen Marshall war. Ich hatte ihn als groß und schwarzhaarig in Erinnerung, und diese Kerle waren wie die meisten Panzerleute eher klein. Wovon es in einem M1A1 Abrams nicht viel gibt, ist Platz.
Das Humvee hielt dicht vor mir, und ich ging nach links zum Fahrerfenster. Summer baute sich ohne Haltung anzunehmen auf der Beifahrerseite auf. Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter. Starrte mich an.
»Ich suche Major Marshall«, sagte ich.
Der Fahrer war ein Hauptmann, der Beifahrer auch. Beide trugen Nomex-Panzerkombis und dazu Sturmhauben und Kevlarhelme mit eingebauten Kopfhörern. Der Beifahrer hatte die Ärmeltaschen voller Filzschreiber. An beiden Oberschenkeln waren Kniebretter mit ausgefüllten Vordrucken festgeschnallt. Offenbar irgendwelche Punktebogen.
»Marshall ist nicht da«, sagte der Fahrer.
»Wo ist er also?«
»Wer fragt das?«
»Sie können lesen«, antwortete ich. Ich trug den Kampfanzug vom Vorabend. Mit Eichenlaub am Kragen und Reacher in Schablonenschrift.
»Einheit?«, fragte der Kerl.
»Das wollen Sie lieber nicht wissen.«
»Marshall musste nach Kalifornien«, sagte er. »Dringende Abkommandierung wegen eines Notfalls in Fort Irwin.«
»Wann?«
»Weiß ich nicht genau.«
»Geben Sie sich Mühe.«
»Irgendwann letzte Nacht.«
»Das ist nicht sehr präzise.«
»Genauer weiß ich’s wirklich nicht.«
»Was für eine Art Notfall gibt’s in Irwin?«
»Weiß ich auch nicht genau.«
Ich nickte. Trat einen Schritt zurück.
»Weiterfahren«, sagte ich.
Als das Humvee losrollte kam Summer zu mir in die Straßenmitte. Die Luft roch nach Dieselschwaden und Turbinenabgasen.
»Vergebliche Reise«, meinte Summer.
»Vielleicht nicht«, sagte ich. »Hängt davon ab, wann Marshall sich aus dem Staub gemacht hat. Ist er nach Swans Anruf abgehauen, wäre das höchst aufschlussreich.«
Bei dem Versuch herauszufinden, wann genau Marshall das XII. Korps verlassen hatte, wurden wir zwischen drei Dienststellen hin- und hergeschickt. Zuletzt gelangten wir in eine Suite im ersten Stock, General Vassells Dienststelle. Der General selbst war nicht da. Wir sprachen mit einem weiteren Hauptmann, wie es schien Vassells Bürochef.
»Major Marshall ist um dreiundzwanzig Uhr mit Delta Airlines
geflogen«, teilte er uns mit. »Frankfurt-Washington, dort sieben Stunden Aufenthalt, dann nach Los Angeles weiter. Ich habe die Reisegutscheine selbst ausgestellt.«
»Wann?«
»Bevor er abgefahren ist.«
»Wann war das?«
»Drei Stunden vor dem Abflug.«
»Zwanzig Uhr?«
Der Hauptmann nickte. »Auf die Minute genau.«
»Mir hat man gesagt, er sei zu einer Nachtübung eingeteilt.«
»Richtig, das war er. Aber es hat sich geändert.«
»Warum?«
»Weiß ich nicht genau.«
Weiß ich nicht genau schien beim XII. Korps die Standardantwort auf alles zu sein.
»Weshalb die Panik in Irwin?«, fragte ich.
»Weiß ich nicht genau.«
Ich lächelte flüchtig. »Wann ist Marshalls Abkommandierung befohlen worden?«
»Um neunzehn Uhr.«
»Schriftlich?«
»Mündlich.«
»Von wem?«
»General Vassell.«
»Hat
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