08-Die Abschussliste
gesprochen hatte, der blicklos in die OP-Leuchte über dem Seziertisch starrte.
Ich fuhr mit einem Humvee an Andrea Nortons Schule für psychologische Kriegsführung vorbei zur Station der Delta Force. Sie war weitgehend unabhängig in Gebäuden untergebracht, die als Militärgefängnis gedient hatten, bevor die Army dazu übergegangen war, alle ihre Übeltäter in Fort Leavenworth in Kansas einzusperren. Die Mauern und der alte Stacheldraht waren auch für den jetzigen Verwendungszweck geeignet. Unmittelbar daneben stand ein riesiger Flugzeughangar aus dem Zweiten Weltkrieg. Er sah aus, als sei er von irgendeinem Flugplatz abtransportiert und hier wieder aufgebaut worden, um ihr Materiallager, ihre Lastwagen und gepanzerten Humvees und vielleicht sogar ein paar Hubschrauber für schnelle Einsätze aufzunehmen.
Der Wachposten am inneren Tor ließ mich ein, und ich ging schnurstracks zur Dienststelle des Adjutanten. Sie war morgens um sieben Uhr dreißig schon hell beleuchtet und in Betrieb, was mir einiges sagte. Der Adjutant, ein Hauptmann, saß an seinem Schreibtisch. In der auf dem Kopf stehenden Welt der Delta Force sind die Sergeanten die Stars, während die Offiziere daheim bleiben und die Hausarbeit erledigen.
»Vermissen Sie jemanden?«, fragte ich ihn.
Er sah weg, was mir wieder etwas sagte.
»Das wissen Sie vermutlich«, antwortete er. »Wozu wären Sie sonst hier?«
»Können Sie mir einen Namen nennen?«
»Einen Namen? Ich dachte, Sie hätten ihn wegen irgendeiner Sache festgenommen.«
»Hier geht’s um keine Verhaftung.«
»Was sonst?«
»Wird dieser Mann oft in Haft genommen?«
»Nein. Er ist ein guter Soldat.«
»Wie heißt er?«
Der Hauptmann gab keine Antwort. Beugte sich nur seitlich nach unten, zog eine Schublade auf und holte einen Ordner heraus. Legte ihn mir hin. Wie alle Personalakten von Soldaten der Delta Force, die ich gesehen hatte, war sie zum öffentlichen Gebrauch weitgehend entschärft worden. Sie bestand nur aus zwei Blatt Papier. Das erste enthielt Namen, Dienstgrad und Stammnummer sowie einen kurzen Überblick über die militärische Laufbahn eines Mannes namens Christopher Carbone. Er war ein unverheirateter Veteran mit sechzehn Dienstjahren, hatte vier Jahre in einer Infanteriedivision gedient, vier in einer Luftlandedivision, vier in einer Rangerkompanie und vier im Special Forces Detachment D. Er war fünf Jahre älter als ich und ein Sergeant First Class. Die üblichen Angaben über Dienstorte, Auslandseinsätze, Belobigungen oder Auszeichnungen fehlten.
Das zweite Blatt enthielt zehn Fingerabdrücke und ein Farbfoto des Mannes, mit dem ich in der Bar gesprochen und den ich vorhin auf dem Seziertisch in der Leichenhalle hatte liegen sehen.
»Wo ist er?«, fragte der Hauptmann. »Was ist passiert?«
»Jemand hat ihn ermordet«, antwortete ich.
»Was?«
»Mord.«
»Wann?«
»Gestern Abend. Zwischen neun und zehn Uhr.«
»Wo?«
»An einem Waldrand.«
»In welchem Wald?«
»In unserem Wald. Auf dem Stützpunkt.«
»Jesus! Warum?«
Ich klappte den Ordner zu und klemmte ihn mir unter den Arm.
»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Noch nicht.«
»Jesus!«, wiederholte er. »Von wem?«
»Weiß ich nicht. Noch nicht.«
»Jesus!«, sagte der Kerl zum dritten Mal.
»Angehörige?«, fragte ich.
Der Hauptmann atmete hörbar aus.
»Er hat irgendwo eine Mutter, glaube ich«, antwortete er. »Ich suche Ihnen die Adresse heraus.«
»Suchen Sie sie nicht mir heraus. Sie werden sie anrufen müssen.«
Er schwieg.
»Hatte Carbone hier Feinde?«, fragte ich.
»Meines Wissens nicht.«
»Irgendwelche Reibungspunkte?«
»Welcher Art?«
»Vielleicht seinen Lebensstil betreffend?«
Er starrte mich an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»War er schwul?«
»Was? Natürlich nicht!«
Ich sagte nichts.
»Wollen Sie behaupten, Carbone sei ein Homo gewesen?«, flüsterte der Hauptmann.
Vor meinem geistigen Auge erschien Carbone, wie er in dem Striplokal nahe der Bühne herumlungerte, nur zwei Meter von einer Stripperin entfernt, die mit hochgerecktem Hintern und den Boden streifenden Brustspitzen auf allen vieren herumkroch
- mit einer Bierflasche in der Hand und breitem Grinsen auf dem Gesicht. Das kam mir wie eine verrückte Freizeitbeschäftigung für einen Schwulen vor. Aber dann glaubte ich wieder das Desinteresse in seinem Blick und seine verlegene Geste zu sehen, mit der er den Annäherungsversuch der Brünetten abgewehrt hatte.
»Ich weiß nicht, was
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