08-Die Abschussliste
sie.
»Wahrscheinlich läuft’s auf einen Pisswettbewerb hinaus«, antwortete ich. »Bei einem so wichtigen Fall will er herkommen und die Ermittlungen selbst leiten. Um mich daran zu erinnern, dass ich in Ungnade gefallen bin.«
Aber ich hatte mich geirrt.
Als Willard aufkreuzte, waren genau vier Stunden vergangen. Ich hörte seine Stimme im Vorzimmer. Ihm bot meine Sergeantin bestimmt keinen Kaffee an. Dazu hatte sie ein viel zu
feines Gespür. Dann wurde meine Tür aufgerissen. Er kam herein, ohne mich anzusehen. Schloss nur die Tür hinter sich und nahm auf meinem Besucherstuhl Platz. Fing sofort an, darauf herumzurutschen. Gleichzeitig zupfte er oberhalb der Knie an seiner Hose herum, als verbrenne das Gewebe ihm die Haut.
»Gestern«, begann er. »Ich will genau wissen, was Sie alles gemacht haben. Ich will’s von Ihnen selbst hören.«
»Sie sind hergekommen, um mir Fragen zu stellen?«
»Ja.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Bis zwei Uhr nachmittags saß ich im Flugzeug«, sagte ich. »Bis fünf Uhr war ich bei Ihnen.«
»Und dann?«
»Gegen elf Uhr war ich wieder hier.«
»Nach sechs Stunden? Ich habe vier gebraucht.«
»Sie sind vermutlich selbst gefahren. Ich habe zwei Busse genommen und habe das letzte Stück per Anhalter zurückgelegt.«
»Und danach?«
»Anschließend habe ich mit meinem Bruder telefoniert.«
»Ich erinnere mich an Ihren Bruder«, sagte Willard. »Ich habe mit ihm zusammengearbeitet.«
Ich nickte. »Das hat er erwähnt.«
»Und nach diesem Anruf?«
»Danach habe ich mit Leutnant Summer gesprochen«, sagte ich. »Privat.«
»Und dann?«
»Dann ist gegen Mitternacht Carbones Leiche aufgefunden worden.«
Er nickte, zuckte und rutschte unruhig herum.
»Haben Sie die Busfahrkarten aufgehoben?«, fragte er.
»Das bezweifle ich«, gab ich zur Antwort.
Er lächelte. »Wissen Sie noch, wer Sie zum Stützpunkt mitgenommen hat?«
»Kaum. Warum?«
»Weil ich’s vielleicht wissen müsste. Als Beweis dafür, dass ich keinen Fehler gemacht habe.«
Ich schwieg.
»Sie haben Fehler gemacht«, sagte er.
»Wie das?«
Er nickte. »Ich weiß bloß nicht, ob Sie ein Idiot sind oder alles absichtlich tun.«
»Was tue ich denn?«
»Legen Sie’s eigentlich darauf an, die Army in Verlegenheit zu bringen?«
»Was?«
»Wie sieht die allgemeine Lage aus, Major?«
»Erzählen Sie’s mir, Oberst.«
»Der Kalte Krieg geht zu Ende. Daher stehen große Veränderungen bevor. Der Status quo bleibt auf keinen Fall erhalten. Deshalb versuchen alle Teilstreitkräfte, gut dazustehen und den Cut zu schaffen. Und wissen Sie was?«
»Was?«
»Die Army steht immer ganz unten. Die Air Force hat all diese tollen Flugzeuge. Die Navy hat U-Boote und Flugzeugträger. Die Marineinfanterie ist immer unantastbar. Und wir stecken im Schlamm fest - buchstäblich. Wir stehen ganz unten. Die Army ist langweilig, Reacher. So denkt man in Washington.«
»Und?«
»Dieser Carbone war schwul. Er war ein verdammter Arschficker. Eine Eliteeinheit, in der Perverse dienen? Glauben Sie, dass die Army solche Meldungen brauchen kann? Ausgerechnet in solchen Zeiten? Sie hätten seinen Tod als Dienstunfall hinstellen sollen.«
»Das wäre eine Lüge gewesen.«
»Wen hätte das gestört?«
»Er ist nicht ermordet worden, weil er schwul war.«
»Natürlich war’s deswegen.«
»Als Ermittler kenne ich mich mit Tatmotiven aus«, entgegnete ich. »Und ich sage, dass das nicht der Grund war.«
Er funkelte mich an. Schwieg eine Weile.
»Okay«, sagte er. »Darauf kommen wir noch zurück. Wer außer Ihnen hat die Leiche gesehen?«
»Meine Leute und eine Oberstleutnantin von der Schule für psychologische Kriegführung, deren Meinung ich einholen wollte. Und der Pathologe.«
Er nickte. »Sie übernehmen Ihre Leute. Ich kümmere mich um die Oberstleutnantin und den Pathologen.«
»Was wollen Sie denen erzählen?«
»Dass wir die Sache als Dienstunfall hinstellen. Das werden sie verstehen. Kein Schaden, kein Verbrechen. Keine Ermittlungen.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Glauben Sie, dass die Army will, dass diese Geschichte bekannt wird? Ausgerechnet jetzt? Dass bei der Delta Force vier Jahre lang ein solcher Soldat gedient hat? Sind Sie verrückt?«
»Die Sergeanten wollen eine Untersuchung.«
»Aber ihr Kommandeur bestimmt nicht. Das garantiere ich Ihnen!«
»Dazu müssen Sie mir einen ausdrücklichen Befehl geben«, entgegnete ich. »In möglichst einfachen Worten.«
»Sehen Sie mir auf die
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