08 - Ehrenschuld
spielte ihre kleinen Spielchen, genau wie er. »Nun sagen Sie's schon, Dr. Golden.«
»Vergewaltigung.«
Murray nickte und ließ die Speisekarte sinken. »Gut, aber zuerst erzählen Sie mir bitte von Ihrer Patientin.«
»Eine Frau von fünfunddreißig, ledig, war nie verheiratet. Sie wurde von ihrem Gynäkologen, einem alten Freund von mir, an mich überwiesen. Sie kam zu mir mit einer klinischen Depression. Ich habe drei Sitzungen mit ihr gehabt.«
Nur drei, dachte Murray. Clarice war eine Hexe in dieser Beziehung, so scharfsinnig. Mein Gott, was wäre sie mit ihrem sanften Lächeln und ihrer ruhigen, mütterlichen Stimme für eine phantastische Vernehmungsbeamtin gewesen.
»Wann ist es passiert?« Namen brauchte er jetzt noch nicht, Murray wollte erst einmal die nackten Tatsachen des Falles kennen.
»Vor drei Jahren.«
Der FBI-Agent - seinem amtlichen Titel »Deputy Assistant Director« zog er immer noch den »Special Agent« vor - runzelte die Stirn. »Das ist lange her, Clarice. Keine gerichtsverwertbaren Beweise, vermute ich.«
»Nein, es ist ihr Wort gegen seines, das heißt, es gibt doch etwas.« Golden holte vergrößerte Fotokopien des Beringer-Briefes aus ihrer Handtasche. Murray las die ersten Seiten gründlich durch, während Dr. Golden sein Gesicht beobachtete, um seine Reaktion zu sehen.
»Ach du Schande«, stöhnte Dan, während der Kellner in gebührendem Abstand wartete, in der Annahme, bei seinen Gästen handele es sich um einen Reporter und seine Quelle, was in Washington nichts Ungewöhnliches war. »Wo ist das Original?«
»In meiner Praxis. Ich habe es sorgfältig verwahrt«, erklärte Golden.
Das brachte Murray zum Lächeln. Das mit Monogramm versehene Papier half ihm unmittelbar weiter. Außerdem hielten sich Fingerabdrücke auf Papier besonders gut, zumal wenn es, wie bei solchen Briefen üblich, an einem kühlen, trockenen Ort aufbewahrt wurde. Von der Senatsmitarbeiterin dürfte man im Zuge ihrer Sicherheitsüberprüfung Fingerabdrücke genommen haben, so daß die vermutliche Urheberin dieses Dokuments eindeutig identifiziert werden konnte. Zeit, Ort und Hergang waren angegeben, und auch ihr Wunsch zu sterben war zum Ausdruck gebracht. Das war zwar traurig, machte dieses Dokument aber zu so etwas wie einer feierlichen Zeugenaussage einer Sterbenden, so daß es vermutlich vor einem Bundesbezirksgericht als Beweismaterial in einem Strafverfahren zugelassen werden würde. Der Verteidiger würde Einspruch erheben - das taten sie immer -, und der Einspruch würde zurückgewiesen werden - das wurde er immer -, und die Geschworenen würden jedes Wort hören und sich vorbeugen, wie sie es immer taten, um die Stimme aus dem Grabe zu vernehmen. Nur würden es in diesem Fall keine Geschworenen «in, zunächst jedenfalls nicht.
Murray war auf Fälle von Vergewaltigung nicht scharf. Als Mann und als Polizist brachte er dieser Sorte von Verbrechen besondere Verachtung entgegen. Es war ein Makel auf seiner eigenen Männlichkeit, daß jemand eine so feige, widerliche Tat begehen konnte. Was ihn aus professioneller Sicht mehr störte, war die unangenehme Tatsache, daß in Fällen von Vergewaltigung am Ende oft das Wort eines Menschen gegen das Wort eines anderen stand. Murray mißtraute wie fast alle Untersuchungsbeamten jeder Art von Augenzeugenangaben. Die Menschen waren schlechte Beobachter - das war ein schlichtes Faktum -, und die Opfer einer Vergewaltigung, von dem Erlebnis niedergeschmettert, gaben oft schlechte Zeugen ab, und außerdem wurde ihre Aussage vom Verteidiger in Zweifel gezogen. Forensische Beweise dagegen ließen sich erhärten, sie waren unanfechtbar. Murray waren solche Beweise am liebsten.
»Reicht es aus, um ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen?«
Murray blickte auf und sagte ruhig: »Ja, Ma'am.«
Er fügte hinzu: »Mein derzeitiger Posten - ich bin, wenn Sie so wollen, die Straßenversion des ersten Stellvertreters von Bill Shaw. Sie kennen doch Bill, oder?«
»Nur dem Namen nach.«
»Wir waren Klassenkameraden in Quantico, und wir haben beide genauso angefangen, am selben Ort, und dieselben Dinge gemacht. Wir sind Bullen und ein Verbrechen ist ein Verbrechen, und nur darum dreht sich's, Clarke.«
Aber während er nach außen hin das Credo seiner Behörde verkündete, dachte er im stillen: Ach du Schande. Diese Sache hatte eine gewaltige politische Dimension. Die Scherereien kamen dem Präsidenten nicht gelegen. Na ja, wem wäre so was schon gelegen gekommen? Es wäre verdammt
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