08 - Im Angesicht des Feindes
hat überhaupt keine Zeit für Freunde, außer in der Schule, und da ist sie unter der Aufsicht der guten Nonnen, da kann also nichts passieren. Sollte man jedenfalls meinen.«
»Wann spielt Charlotte denn dann mit diesem Mädchen?«
»Immer wenn sie einen freien Moment hat. In der Schule in der Pause oder beim Sport. Vor ihren Terminen. Kinder finden immer Zeit für Freunde.«
»Und an den Wochenenden?«
Die Wochenenden verbrachte Charlie mit ihren Eltern, wie Mrs. Maguire erzählte. Entweder mit beiden gemeinsam oder mit Mr. Stone in einem seiner Restaurants oder bei Mrs. Bowen in ihrem Büro am Parliament Square. »Die Wochenenden sind für diese Familie da«, sagte sie, und ihr Ton ließ ahnen, wie streng an dieser Regel festgehalten wurde. »Die beiden haben viel zu tun«, fuhr sie fort. »Sie sollten Charlies Freunde eigentlich kennen. Sie müßten wissen, was sie treibt, wenn sie nicht mit ihnen zusammen ist. Aber sie wissen es nicht immer, so ist das nun mal. Gott verzeih ihnen, denn ich weiß wirklich nicht, wie sie sich selbst verzeihen wollen.«
Die St.-Bernadette-Grundschule in der Blandford Street, nicht weit von der Marylebone High Street und vielleicht einen halben Kilometer von der Devonshire Place Mews entfernt, war ein vierstöckiges Backsteingebäude mit Kreuzblumen an den Ziergiebeln und, in einer Nische über dem Portal, einer Statue der Heiligen, die ihr den Namen gegeben hatte. Sie wurde von den Schwestern der heiligen Märtyrer geleitet, einer Gruppe von Frauen, deren Durchschnittsalter bei siebzig Jahren zu liegen schien. Sie trugen schwere schwarze Gewänder, Rosenkränze mit dicken Holzperlen um die Mitte, weiße Brustkragen und gestärkte Schleier, die an enthauptete Schwäne erinnerten. Sie hielten ihre Schule so tadellos sauber wie einen polierten Kelch. Die Fenster blitzten, die weißen Wände waren so rein wie eine gute christliche Seele, die grauen Linoleumböden glänzten, und es roch allenthalben nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln. Wenn es nach der Sauberkeit ging, konnte der Teufel nicht hoffen, mit den Schülerinnen dieses Instituts viel zu tun zu haben.
Nach einem kurzen Gespräch mit der Schulleiterin, einer Nonne, die sich ihm als Schwester Mary vorstellte und mit fromm gefalteten Händen und scharfem Blick seinen Worten lauschte, wurde St. James in die erste Etage hinaufgeführt. Dort folgte er der Nonne durch einen stillen Korridor, hinter dessen geschlossenen Türen die Sache der Wissenschaft gefördert wurde. Vor der vorletzten Tür blieb Schwester Mary stehen und klopfte einmal kurz, ehe sie eintrat. Die Schülerinnen - vielleicht fünfundzwanzig kleine Mädchen, die in ordentlichen Reihen saßen - sprangen wie auf Kommando von ihren Stühlen auf und riefen, Füller und Lineale in der Hand, im Chor: »Guten Morgen, Schwester!«, worauf Schwester Mary kurz nickte. Schweigend setzten sich die Mädchen und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, der grammatikalischen Gliederung von Sätzen, wie es schien. Ihre Finger waren voller Tintenflecken vom Umgang mit Füller und Lineal beim Ziehen der Verbindungslinien zwischen den einzelnen Satzteilen.
Schwester Mary tauschte mit gesenkter Stimme einige Worte mit der Nonne, die ihr mit dem hinkenden Gang derer, die vor kurzem eine künstliche Hüfte empfangen haben, entgegenkam. Ihr Gesicht glich einer getrockneten Aprikose, und auf der Nase hatte sie eine randlose Brille mit dicken Gläsern. Nach ein paar knappen Worten nickte die Nonne und trat zu St. James hinaus auf den Korridor. Schwester Mary, die sie in der Zwischenzeit im Klassenzimmer vertreten würde, schloß die Tür.
»Ich bin Schwester Agnetis«, stellte sich die Nonne vor.
»Schwester Mary hat mir gesagt, daß Sie wegen Charlotte Bowen hier sind.«
»Sie ist verschwunden.«
Die Nonne kniff die Lippen zusammen und griff zu dem Rosenkranz, der ihr bis zu den Knien herabhing. »Das kleine Luder«, sagte sie. »Das wundert mich nicht.«
»Und wieso nicht, Schwester?«
»Na, die will doch immer nur auf sich aufmerksam machen. Im Klassenzimmer, in der Kantine, beim Sport, beim Gebet. Das ist zweifellos wieder so ein Einfall von ihr, um sich in den Vordergrund zu spielen. Es wäre nicht das erstemal.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Charlotte schon einmal weggelaufen ist?«
»Sie hat sich schon des öfteren aufgespielt. Letzte Woche kam sie mit den Kosmetika ihrer Mutter zur Schule und malte sich damit während der Mittagspause auf der Toilette das Gesicht
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