080 - Befehle aus dem Jenseits
quiekend davon. Sekundenlang blitzten ihre winzigen Knopfaugen im Licht.
Das Rascheln der Ratten wurde lauter.
Plötzlich hielt ich inne. Im Lichtkegel zeichnete sich eine rechteckige Grabplatte ab. Sie lag etwas tiefer, so daß ich sie beim ersten Hinsehen nicht entdeckt hatte. Neugierig trat ich näher heran und beugte mich vor. Die Steinplatte war etwa drei Meter lang und fast zwei Meter breit. Sie war mit Moos überwuchert. Schwarze Schimmelpilze wuchsen an den Rändern. Ich kratzte die oberste Schicht vorsichtig ab. Darunter kamen kyrillische Buchstaben zum Vorschein.
Eine Grabinschrift. Und da erinnerte ich mich an die Gedankenbotschaft des Schamanen.
Er hatte vor den Stadtbewohnern verraten, daß ihn ihre Vorfahren in der Gruft dieser Bojarenruine lebendig eingemauert hatten. Vielleicht war das hier die Grabstätte des Hexenmeisters.
Rasch befreite ich die gesamte Platte vom Staub der Jahrhunderte, kratzte das Moos ab und den Dreck aus den Ritzen. Gespannt ließ ich meine Rechte über die Inschrift gleiten.
Der Text ließ sich nicht so ohne weiteres übersetzen. Er war in Altrussisch verfaßt worden. Magische Runen standen zwischen den Worten.
In diesem Augenblick schlug der Schamane mit aller Kraft zu. Ich taumelte unter dem Ansturm der Geistesschwingungen zurück. Mit beiden Händen umfaßte ich meinen Kopf. Ich hatte das Gefühl, jemand würde meinen Schädel zertrümmern. Die Schmerzen waren unbeschreiblich. Ich schrie, obwohl ich wußte, daß mir körperlich nichts fehlte. Die Schmerzen wurden hypnotisch in meinem Innersten erzeugt.
Der Hexenmeister wußte genau, daß ich vor seinem Grab stand.
Genau um Mitternacht sprangen die ersten Menschen in den Tod.
Der Schamane schwebte unmittelbar vor ihnen. Er lockte sie durch seine hypnotischen Schwingungen in den Abgrund…
„Ihr müßt sterben, wenn ihr keine Angst mehr haben wollt. Ihr müßt zu existieren aufhören, denn das Leben besteht aus Leid, Angst und Sorge."
Zwei Männer sprangen gleichzeitig in die Tiefe. Sie schwebten sekundenlang über dem gähnenden Abgrund, dann stürzten sie in den Tod. Ihre gellenden Schreie wurden vom Wind davongeweht. „Kommt! Folgt ihnen!" lockte der Schamane.
Die unglücklichen Bürger von Saboroschje rückten immer näher an den Schluchtrand heran. Gleich würden die nächsten in den Tod springen. Andere würden nachrücken, bis einer den anderen mit sich in die Tiefe riß. Das Massensterben hatte begonnen.
Der Schamane lachte triumphierend. Sein häßliches Gesicht verzerrte sich zu einer abscheulichen Grimasse. Sein Lachen raste durch die Köpfe sämtlicher Menschen, die in unmittelbarer Nähe standen. Es erzeugte Alpträume, die schlimmer als jede Fieberphantasie waren. Denn jetzt, wo er die Menschen soweit hatte, daß sie für ihn in den Tod sprangen, wollte er sie deutlich spüren lassen, was er in den vielen Jahrhunderten in der Gruft empfunden hatte. Er übertrug das Grauen seiner Verbannung auf die Unglücklichen. Er schürte ihre Ängste und trieb sie dadurch schneller in den Tod.
Plötzlich verstummte das satanische Gelächter.
Die Selbstmörder sahen den Schamanen überrascht an.
Die schwebende Gestalt wurde durchsichtig. Der lähmende Bann, der alle beherrschte, wurde immer schwächer.
„Der Schamane verschwindet!" riefen einige.
„Er verläßt uns, weil wir ungehorsam waren."
„Nein!" schrie ein anderer. „Springt nicht hinunter! Der Schamane wollte uns gar nicht helfen. Er ist nichts weiter als ein falscher Prophet - ein Wahnsinniger, der über euern Tod lacht."
Atemlose Stille senkte sich über die Schlucht.
Jetzt dehnte sich der Körper des Schamanen unter zuckenden Leuchterscheinungen aus. Sein Gesicht drückte Angst und Schmerz aus. Die glühenden Augen schlossen sich.
„Neiiin!" gellte es durch die Köpfe der Menschen. „Du darfst mich nicht vernichten! Neiiiiin!"
Afanasjewitsch Gorgol, las ich auf der Grabplatte. Er trieb Schwarze Magie und lockte Unzählige in den Tod. Er verhexte das Vieh. Er war ein Diener des Bösen. Das Gericht verurteilte ihn zum Tod. Hier liegt er, lebendig begraben, eingemauert in die Gruft der Bojaren.
Ich konzentrierte mich auf die schwere Grabplatte. Die Lampe hatte ich mir zwischen die Zähne geklemmt. Mit aller Kraft stemmte ich ein Brecheisen, das ganz in der Nähe am Boden gelegen hatte, in die Ritze. Es knirschte. Staub wallte auf. Ich ließ nicht locker, bis ich die schwere Grabplatte ringsum soweit gelockert hatte, daß sie sich
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