0811 - Die Aibon-Amazone
spöttischen Lächeln. »Oder haben Sie die Leiche weggeschafft, um mich damit erpressen zu können, was Sie übrigens nicht schaffen werden, meine Liebe.«
»Pardon, aber es gab keine Leiche!«
Jetzt schauspielerte Kimberly Hart tatsächlich. Sie schluckte, sie bewegte ihre Augenbrauen und schüttelte sehr langsam den Kopf.
»Was gab es nicht? Habe ich Sie recht verstanden? Da passierte ein Mord, und es gab keine Leiche?«
»Exakt.«
Kimberly Hart lehnte sich zurück, ließ Jane nicht aus den Augen, fixierte sie und suchte sich die Worte ihrer Antwort sehr genau zusammen. »Sie werden entschuldigen, aber ich habe Sie eigentlich für eine normale Person gehalten, doch was Sie mir nun gesagt haben, will nicht in meinen Kopf. Das verstehe ich nicht. Es gab einen Mord, aber es gab keine Leiche. Ist das richtig?«
»So drückte ich mich aus.«
Einer der grünlich lackierten Fingernägel deutete auf Janes Brust.
»Sie bleiben auch dabei, dass ich diese Evelyn Dale trotzdem ermordet habe?«
»Davon weiche ich nicht ab.«
»Pardon, doch ich komme jetzt nicht mehr mit. Ich bin eine Mörderin ohne Leiche. Das ist mir etwas zu hoch, wenn Sie gestatten. Ich möchte Sie nicht für schizophren halten, aber…«
»Sie haben mich nicht zu Ende reden lassen, Kimberly.«
»Verzeihung, tun Sie das.«
»Es konnte keine Leiche mehr geben. Als Ihr Pfeil die Kehle der Frau traf, da geschah etwas Ungewöhnliches mit ihr. Sie fiel nicht nur hin, sie fing auch an, sich allmählich aufzulösen. Ja, vor meinen Augen wurde der Körper zuerst weich, schon gummiartig, dann wurde er flüssig und versickerte im Boden. So und nicht anders hat es sich abgespielt. Für mich sind Sie eine Mörderin, obwohl keine Leiche vorhanden war.«
»Gut, sehr gut, aber noch unwahrscheinlicher.«
»Nein, es stimmt.«
»Ja, es stimmt.« Sie nickte. »Können Sie mir für diesen Vorgang auch noch eine Erklärung geben?«
»Das kann ich.«
»Ich warte.«
»Die tote Evelyn Dale war ebenso wenig normal, wie Sie es sind, Kimberly.«
»Jetzt werden Sie aber nicht unverschämt, Jane.«
»Ausreden lassen, bitte. Sie sind normal, daran gibt es keinen Zweifel. Aber Sie führen eine Doppelexistenz, meine Liebe. Hier zeigen sie sich als normale Frau, und eine Frau sind Sie auch in Ihrem anderen Leben und in einem anderen Land, das für die meisten Menschen unsichtbar ist – und von dem nur wenige wissen.«
»Aber Sie!«
»Ja, Sie ebenfalls, Kimberly. Viel mehr als ich.«
»Dann nennen Sie endlich den Namen.«
»Aibon!« Jane hatte das Wort gelassen ausgesprochen und wartete auf die Reaktion.
Kimberly Hart tat nichts. Sie blieb einfach sitzen, die Hände auf die Lehnen des Sessels gedrückt. Eine Reaktion zeigte sie nicht, weder im positiven noch im negativen Sinn, allerdings zog sie nach einer Weile die Stirn kraus, weil sie nachdachte.
»Probleme!« spottete Jane.
»Keine unlösbaren.«
»Aber…«
Kimberly hob die Schultern. »Ich beginne umzudenken, meine Liebe.«
»Wie schön. Dann habe ich die Chance, endlich an die ganze Wahrheit heranzukommen.«
»Nun ja, im Prinzip schon, aber anders, als Sie es sich vorgestellt haben.«
»Ich bin gespannt.«
»Das dürfen Sie auch«, erklärte Kimberly und stemmte sich mit einer zackigen Bewegung aus dem Sessel hoch.
»Soll ich auch aufstehen?«
»Ja, ich bitte darum.«
Kimberly wartete, bis sich Jane ebenfalls erhoben hatte und ging dann vor bis zur Fensterfront, die an der Seeseite lag. An einer bestimmten Stelle zog sie an einer Kordel, und ein türbreiter Spalt entstand, als die Gardine zur Seite glitt.
Beide Frauen standen vor einer Glastür. Sie konnten hinaus auf die wogende See schauen, bis hin zum Horizont, wo sich Himmel und Wasser trafen. Nurwenige Boote waren unterwegs, der Himmel war klar, aber grau und wolkig.
»Wollten Sie mir das zeigen, Kimberly?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht.«
»Was dann?«
»Wir werden hinausgehen.«
»Oh…«
Kimberly lächelte milde. »Keine Sorge, Jane, ich werde schon nicht versuchen, sie ins Wasser zu stoßen. Nein, nein, das ist wirklich nicht mein Stil. Mir geht es um etwas anderes.«
»Darf ich es wissen?«
»Noch nicht. Nur einen Moment Geduld. Sie werden es bald erleben, Jane.«
Der Türgriff musste aus der senkrechten Stellung zur Seite gehebelt werden. Obwohl die Tür schwer war, ließ sie sich leicht öffnen.
Der frische Wind wehte in das Büro und brachte den typischen Seegeruch mit. Eine leicht salzig schmeckende Luft, die den
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