0814 - Der geheimnisvolle Engel
Einerseits war er froh, dass er am Mord gehindert worden war. Andererseits wäre dieser unbedingt vonnöten gewesen. Denn nun war die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten.
Eine weitere Chance bekam er wohl nicht mehr. Wäre er kaltblütiger gewesen und nicht voller Panik, hätte er sein Werk vollenden können, während die beiden Fremden geblendet auf den Boden sanken. Es wäre so leicht gewesen. Die Prostituierte lag bewusstlos da, ein kurzer Ruck hätte genügt, um ihr das Genick zu brechen. Und die Dinge hätten wieder ihren normalen Gang genommen. War er ein Versager? Zumindest fühlte er sich so.
Bruder Claudius schlüpfte aus seiner Ordenstracht und stieg in die Wanne. Das heiße Wasser, das seinen Körper umschmeichelte, tat ihm gut. Er streckte sich aus und stöhnte wohlig. Draußen wurde es langsam Morgen, der erste Schein der aufgehenden Sonne fiel durch das kleine Badezimmerfenster und verbreitete ein angenehm schummriges Halbdämmer.
»Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, flüsterte er.
Plötzlich war das Badezimmer von einem weißen, sanften, zarten, durchscheinenden; aber trotzdem intensiven Licht erfüllt. Bruder Claudius erschrak. Er fuhr hoch und starrte auf das Leuchten. Dabei schluckte er einige Male schwer. Eisige Schauer rannen trotz des heißen Wassers seinen Rücken hinunter. Er sah, dass sich die Quelle dieses wunderbaren, überirdischen Lichts im Badezimmerspiegel manifestierte. Von dort breiteten sich die Strahlenbahnen nach allen Seiten aus und bildeten einen ebenmäßigen Kranz. Ähnliches hatte Bruder Claudius schon ein paar Mal gesehen, wenn die Sonne über Orval aus schwarzen Gewitterwolken brach. Gleichzeitig glaubte der Mönch, einen sphärenhaften Engelsgesang von unbegreiflicher Schönheit wahrzunehmen. Und eine Stimme war im Raum, die ihm nicht fremd war.
»Gott hat dich nicht verlassen«, sagte sie. »Noch können wir die Situation retten.« Gleichzeitig wuchs aus dem Zentrum des Leuchtens der Engel, den er bereits kannte. Das zeitlos schöne Gesicht, das weder einem Mann noch einer Frau zuzuordnen war, lächelte ihn in vollkommener Güte an und Bruder Claudius fühlte seine Seele bis in die finstersten Abgründe durchleuchtet. Er fühlte sich unendlich klein vor diesem Boten des Herrn. Unglaublich, dass er einen Mord hatte begehen wollen. Leise schluchzend schlug er die Hände vors Gesicht.
Ein tröstender Hauch streifte ihn und ließ seine Seele ein wenig leichter werden.
»Bruder Claudius«, sagte der Engel, »die Frau einfach umzubringen, war die dümmste aller Ideen, auf die du kommen konntest.«
Der Zisterzienser nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du hast Recht. Ich war verblendet und schäme mich zutiefst dafür. Danke, dass du mich von meinem Tun abgehalten hast, weiser Engel.«
Der Gottesbote lächelte wieder und pflanzte damit ein wenig mehr Frieden in des Mönches geschundene Seele. »Ich war es gar nicht, Bruder Claudius. Die beiden Menschen, die sich Nicole Duval und Professor Zamorra nennen, waren es.«
»Belgier?«, fragte der Mönch verblüfft.
»Nein, Franzosen. Sie sind nicht deine Feinde, Bruder Claudius. Im Gegenteil. Sie stehen auf deiner Seite. Nun, da sie hier sind, solltest du mit ihnen zusammenarbeiten. Auch sie sind Streiter im Dienste des Herrn und gegen das Böse, Dämonische. Es gab wohl einige Missverständnisse, die nicht hätten sein müssen. Aber auch ein Engel des Herrn kann nicht überall zugleich sein.«
Bruder Claudius nickte. Sollte er es wagen?
Er wagte es.
»Bist du gar… ein Seraphim?«, fragte er.
Wieder lächelte der Engel sein gütiges Lächeln. »Du vermutest richtig, Bruder Claudius. Ich bin tatsächlich ein Seraphim und sogar noch mehr. Denn ich gebiete über eine komplette Legion Seraphim.«
Bruder Claudius stockte der Atem. Was bekam er da gerade zu hören? »Dann hast du… Gott geschaut?«
Der Engel lächelte intensiver als zuvor. »Noch niemals, mein neugieriges Mönchlein. Diese Gunst ist selbst einem Seraphim nicht gegeben.«
»Aber die Heilige Schrift sagt doch…« Er stockte.
»Fromme Legenden, nichts weiter. Glaube mir das, Bruder Claudius. Selbst der höchste Seraphim steht so weit unter dem Schöpfer, dass er dessen Anblick nicht begreifen könnte und wahnsinnig würde. Sogar LUZIFER, der gefallene Engel, hat Gott niemals wirklich gesehen.«
»Halt ein«, flüsterte der Mönch entsetzt. »Ich begreife das nicht und will es auch nicht begreifen. Es zerstört meine Seele und
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