0814 - Der geheimnisvolle Engel
zerfrisst meinen Geist. Entschuldige, dass ich dich überhaupt gefragt habe, Engel des Herrn. Darf ich dich übrigens mit einem Namen anreden?«
»Den würdest du ebenso wenig begreifen, mein armes Mönchlein. Ich will dir nicht endgültig den Seelenfrieden rauben. Aber genug philosophiert. Nun ist wieder Aktion angesagt. Ich möchte, dass du ein Boot mietest.«
»Ein Boot?«
»Ja, ein kleines mit Außenbordmotor, das drei oder vier Leute transportieren kann. Denn du sollst jemanden im Boot aufnehmen. Dann bin ich zuversichtlich, dass wir den Teufel doch noch besiegen können.«
»Mit dir an meiner Seite ist mir nichts unmöglich«, sagte der Mönch erfreut, von neuer Hoffnung und neuem Mut förmlich durchflutet. Elegant schwang er sich aus der Badewanne. »Oh, Verzeihung«, krächzte er, als er nackt vor dem Engel stand.
»Nichts Menschliches ist mir fremd«, erwiderte dieser.
***
Das unbegreifliche Wesen, das von Marion von Altmühl Besitz ergriffen hatte, floh fast panisch vor der Flammensäule, die plötzlich aus dem grünen Leuchten und der fremden Frau entstanden war. Diese Kraft, die äußerlich der seinen ähnelte, war trotzdem etwas völlig anderes, unglaublich Mächtiges. Das Wesen konnte diese Kraft nicht mal im Ansatz einordnen. Es war ihm aber völlig klar, dass sie ihm zumindest hätte gefährlich werden können.
Marion von Altmühl enterte ihren Golf und fuhr aus Bergen hinaus. Das Wesen in ihr lenkte sie. Ihr Ziel war der südliche Teil der Insel, weit weg vom Kap Arkona. Dort kannte sie ein Versteck, in dem sie ausharren würde, bis der alles entscheidende Moment gekommen war.
Morgen Nacht würde es so weit sein. Dann war nicht nur Vollmond, dann waren auch die kosmischen Konstellationen für diesen Teil der Welt so günstig, dass es gelingen würde.
Nach so langer Zeit. Nach fast 1000 Jahren…
Marion von Altmühl fuhr in normalem Tempo durch die schmalen Alleestraßen in Richtung Putbus. Denn jede Auffälligkeit könnte die Verfolger sofort wieder auf ihre Spur führen. Das musste vermieden werden. Sie waren gefährlich. Man durfte sie nicht unterschätzen.
Es war noch immer Nacht. Von Putbus aus fuhr Marion Richtung Kasnevitz. Dort lenkte sie ihren Golf über einen Plattenweg, der aus zwei Spuren bestand und zahlreiche Schlaglöcher aufwies, ins freie Gelände. Es ging über ein paar kleine Hügel, dann tauchte ein Wäldchen auf, an dessen Rand ein altes, graues, verfallenes Häuschen stand. Sie hatte es beim Herfahren entdeckt. Und nun würde es ihr als Versteck bis morgen Nacht dienen. Hier war es einsam, hier suchte sie garantiert niemand.
Sie fuhr den Golf hinter das Häuschen, wo jede Menge Schrott, Müll und anderer Unrat vor sich hin rostete, überwuchert von Unkraut aller Art. Marion parkte den Golf so, dass er von zufällig Vorbeikommenden nicht gesehen werden konnte, und ging ins Haus.
Alles war schmierig und schmutzig und modrig, es stank ekelhaft. Wäre Marion von Altmühl noch sie selbst gewesen, sie wäre schnellstens geflohen.
So aber ließ sie sich auf einen Stuhl nieder und wartete.
Stunde um Stunde saß sie unbeweglich da. Ihre Blicke gingen ins Leere. Chaotische Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Sie sah mittelalterlich gekleidete Soldaten. Die zerrten ein riesiges Standbild mit vier Köpfen auf vier Hälsen an langen Seilen aus einem Tempel und warfen es um. Es zerbrach. Dann hackten sie wie die Wilden mit Beilen und Messern auf die ganz gebliebenen Teile ein. Sie schrien und grölten dabei, manche urinierten über den gefallenen Gott Svantevit. Die Menschen, die drum herum standen, hatten großteils betretene, starre Mienen, einige aber weinten hemmungslos. Mit dem Standbild ging auch ihre Welt in Trümmer, ihre wunderbare Religion. Jetzt mussten sie das Christentum mit seinen schweren, düsteren-Visionen annehmen. Oder sterben.
Das Bild der Zerstörung wurde überlagert. Marion sah den Mönch, der sich von den Soldaten, mit denen er gekommen war, abgesetzt hatte. Er eilte durch finstere Gänge, die sich unter der Tempelburg erstreckten. Vor einem unbegreiflichen, leuchtenden Etwas blieb er stehen. Aus dem Leuchten erwuchs die Flammenfratze eines mächtigen Wesens. Sie griff den Mönch sofort an. Aber der reckte dem Dämon furchtlos einen Spiegel entgegen, in den Letzterer hinein gesogen wurde. Schmerz. Verheerender, furchtbarer, alles verschlingender Schmerz. Schmerz, den Menschen eigentlich nicht empfinden konnten, weil es die Natur so nicht vorgesehen hatte.
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