082 - Die weisse Frau
halte ein Verbrechen für nicht ausgeschlossen.“
„Das ist mir egal“, entgegnete Anne. „Denken Sie, was Sie wollen, aber tun Sie etwas!“ Sie wandte sich an Frau von Stöckingen.
„In der Nähe des Schlosses treibt sich im übrigen der schwachsinnige Keschmer dauernd herum. Ich möchte mich über ihn beschweren.“
„Was hat er getan?“
Sie berichtete, was Harriett und Petra in der Folterkammer gesehen hatten. Frau von Stöckingen erhob sich erregt.
„Ich werde die Mädchen zur Rechenschaft ziehen“, sagte sie heftig.
„Wie bitte?“ fragte Anne Bloom fassungslos. „Die Mädchen?“
„Sie wissen, wie streng wir in diesem Haus auf Disziplin und Ordnung achten müssen. Wenn die beiden Mädchen sich unseren Anordnungen widersetzen, dann haben sie eine Strafe verdient.“
„Ich denke, daß vor allem der Schwachsinnige eine Zurechtweisung verdient hat“, warf Dr. Schwab ein. „Wenn er sich wie ein Tier benimmt und heimlich ins Schloß eindringt, wird er zu einer Bedrohung. Er gehört in eine Anstalt.“
„Ich werde mit ihm sprechen“, erwiderte die Schulleiterin spitz. „Noch etwas?“
„Sie wollen die Mädchen also nicht nach Hause schicken?“ fragte Anne noch einmal.
„Sie kennen meine Entscheidung. Finden Sie sich damit ab.“
„Ich werde Sie zwingen, das zu tun, was ich für richtig halte.“
„Sie gehen zu weit.“
„Ich werde die Presse über die Vorgänge im Schloß informieren.“ „Wollen Sie mich erpressen?“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich handle in Notwehr.“
„Mein liebes Fräulein Bloom, ich …“
„Ich bin nicht Ihr liebes Fräulein.“
Die Fronten hatten sich verhärtet. Unversöhnlich standen sich die beiden Frauen gegenüber. Keine von ihnen war bereit, nachzugeben.
Dr. Emil Lohmann lachte. „Welch ein Temperament unsere entzückende Kollegin hat! Ich bin hingerissen. Was sagen Sie, Dr. Schwab?“
„Sie alter …“ begann Anne wütend, doch Dr. Lohmann hob ihr rasch beide Hände entgegen.
„Bitte“, sagte er. „keine Beleidigungen! Das könnte das Klima mehr als zehn Minuten verschlechtern, und das wollen wir doch alle nicht.“
„Bin ich denn hier in einem Irrenhaus?“ fragte die Englischlehrerin erregt. Sie wandte sich wieder an die Schulleiterin. „Genügen Ihnen zwei tote Schülerinnen noch nicht? Müssen es noch mehr werden?“
„Es könnte ja auch mal ein Mitglied des Lehrkörpers sein, nicht wahr?“ meinte Dr. Lohmann mit unüberhörbarem Spott.
„Fräulein Bloom, Sie sind entlassen. Ich erwarte, daß Sie noch heute Ihre Sachen packen und abreisen“, erklärte die Schulleiterin.
„Sie gehen zu weit!“ sagte Dr. Schwab.
„Ach?“
„Übersehen Sie, bitte, nicht, daß Fräulein Bloom aus reinem Verantwortungsgefühl heraus so handelt. Ihr geht es um das Wohlergehen der Schülerinnen – und das ist nicht unkorrekt, gnädige Frau.“
„Sie können reden, was Sie wollen“, sagte Anne entschlossen. „ich werde auf jeden Fall so lange im Schloß bleiben wie die Mädchen. Morgen können Sie mich meinetwegen entlassen, heute gehe ich nicht.“
Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
„Fräulein Bloom!“ rief ihr Frau von Stöckingen nach.
Aber Anne ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Auf dem Flur blieb sie einige Minuten stehen. Und allmählich beruhigte sie sich. Sie wußte, daß sie die Presse nicht informieren durfte, nicht, solange Frau von Stöckingen nicht einverstanden war. Wenn sie einen Skandal um das Internat entfesselte, konnte man sie später für eventuelle wirtschaftliche Schwierigkeiten verantwortlich machen. Nein, sie mußte einen anderen Weg finden, das Unheil abzuwenden.
Dann kam ihr eine Idee. Rasch eilte sie in den Ostflügel. Die Tür zum Arbeitszimmer von Dr. Lohmann war unverschlossen. Sie brauchte sich gar nicht lange umzusehen. Die Chronik des Schlosses Hohenbrück lag auf dem Schreibtisch des Geschichtslehrers. Ein Lesezeichnen zeigte die Seite an, die sie suchte.
In aller Eile las sie durch, was Lohmann ihr bereits über Ulrike von Groningen berichtet hatte. Es war genauso, wie er gesagt hatte. Die dritte Nacht war die schlimmste. In ihr war es in den vergangenen Jahrhunderten zu den schwersten Zwischenfällen gekommen.
Anne erreichte das untere Ende der Seite und wollte auf der anderen Seite weiterlesen, doch die folgende Seite war herausgerissen. Sie nahm eine Lupe, die auf dem Tisch lag, und prüfte den ausgezackten Rand des Blattes. Dabei stellte sie fest, daß
Weitere Kostenlose Bücher