0836 - Das Puppenmonster
kehrten auch die Lebensgeister wieder zurück. Sie hoffte sogar, irgendwann wieder klar denken zu können, aber das brauchte Zeit.
Bis zum Abend hatte sie es bestimmt geschafft. Denn bei ihrem Auftritt gab es wieder einen neuen Text, den wollte sie sich noch einmal durchlesen. Es war nicht einfach, eine Sendung zu bestreiten, in der nur sie redete, denn die Puppe sprach ja nicht, das war Leona, die ihren Part übernahm.
Nachdem sie auch die vierte Tasse geleert hatte und noch immer keinen Hunger verspürte, stand sie auf, um sich anzuziehen. Sie trug noch immer ihren Bademantel, fand ihn allerdings unpassend und entschied sich für eine lockere Kleidung. Einen bunten Pullover, graue Jeans und Stiefeletten.
Nun erschrak sie tief, als sie nach einer Drehung in den Schlafzimmerspiegel schaute.
Himmel, die Stunden der vergangenen Nacht zeichneten sich deutlich in ihrem Gesicht ab! Da hatten sie tiefe Spuren hinterlassen, und ihr Haut wirkte grau wie helle Asche. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Schatten umzeichneten sie, als wären sie mit dunkler Tusche auf die Haut gepinselt worden.
»So sehe ich vielleicht in zehn Jahren aus«, murmelte sie vor sich hin. »Schrecklich.« An diesem Tag würde die Maskenbildnerin besonders viel Arbeit mit ihr haben, das stand fest.
Im Bad legte sie ein leichtes Make-up auf und überlegte dabei, wie sie den Tag angehen sollte.
Die Polizei würde nicht lockerlassen. Sicherlich würde dieser Tanner noch einmal zurückkommen, um mit ihr zu reden. Das aber wollte sie nicht. Obwohl sie den Mord an Harry Nelson nicht begangen hatte, fühlte sie sich irgendwie mitschuldig daran, was eben an dieser niedlichen Puppe lag. Sie war von zwei Zeugen gesehen worden. Normalerweise hätte dieser Chiefinspektor sie längst aus dem Verkehr ziehen müssen, aber wer glaubte schon daran, daß eine Puppe lebte und auch mordete.
Das glaubte Leona ja selbst nicht.
Sie erinnerte sich, daß Tanner ihr »Kind« sehr genau untersucht hatte. Wahrscheinlich hatte er feststellen wollen, ob sie ferngelenkt worden war und den Vergleich mit einem kleinen Roboter standhielt. Da hatte er Pech gehabt. Puppe blieb Puppe. Ivy war weder ein Roboter noch ein verunstalteter Mensch. Ivy war eine Puppe.
War sie das wirklich?
Je länger Leona darüber nachdachte, um so mehr wuchsen ihre Zweifel. Sie konnte sich drehen und wenden, eine Lösung fand sie einfach nicht. Ivy konnte nicht von allein handeln. Die Kinder nahmen die Puppe als Phänomen hin, weil sie sprechen konnte, doch sie begriffen nicht, daß es letztendlich Leona war, die Ivy ihre Stimme lieh.
Sie ging zurück in die Küche. Ihr war nicht gut, der Magen fühlte sich an wie ein Stein. Vielleicht hatte sie auch zuviel Kaffee getrunken, und wenn sie ehrlich gegen sich selbst war, mußte sie auch etwas essen. Ein Brot, nur eine halbe Schnitte, belegt mit Quark oder einer Konfitüre.
Sie ging in die Küche. Der Tisch sah noch so aus, wie sie ihn verlassen hatte.
Im ersten Augenblick fiel ihr nichts auf, bis sie auf den Stuhl schaute, wo Ivy hätte sitzen müssen.
Sie war nicht mehr da!
***
Leona Lockwood stand unbeweglich. Der Schreck war ihr tief in die Glieder gefahren und löste bei ihr auch eine bestimmte Reaktion aus, denn ihr wurde übel. Das Verschwinden der Puppe hatte sie härter getroffen, als sie es zugeben wollte, und zu dieser plötzlichen Übelkeit gesellte sich noch der Schwindel.
Ruhig! schärfte sie sich ein. Ich muß sehr ruhig bleiben. Ich darf jetzt nicht durchdrehen…
Alles war leichter gedacht als getan. Leona hatte ein derartiges Phänomen noch nicht erlebt, sie hatte davon auch nie gehört, das war einzigartig, doch auch gefährlich.
Was tun?
Sie überlegte, sie schaute sich dabei um, denn sie fing damit an, die Puppe in der Küche zu suchen, wo es ja auch Verstecke für so eine kleine Person gab.
Unter dem Tisch schaute sie nach, unter dem Stuhl ebenfalls, dann durchwühlte sie die Schränke, die nicht leer waren, aber es standen nur die Gegenstände darin, die auch hineingehörten.
Keine Ivy…
Je mehr Zeit verging, um so nervöser wurde sie. Leona fror und schwitzte zugleich, und manchmal, wenn sie die Luft tief einatmete, hatte sie den Eindruck, daß ihre Lungen mit glühenden Nadeln gefüllt waren.
Sie hörte sich keuchen, sie rannte durch die Diele in den Wohnraum und suchte dort weiter.
In den Regalen fand sie nichts, sie riß die Kissen hoch, schleuderte sie zur Seite, sprach keuchend mit sich selbst und
Weitere Kostenlose Bücher