084 - Im Schatten der Guillotine
warteten, bis die Frauen mit den Tabletts zu ihnen kamen und ihnen eigenhändig die Wurzeln zwischen die Zähne schoben. In rasendem Rhythmus bearbeiteten die Hände der Trommler die fellbespannten Instrumente. Auf Hafaliis Geheiß hin scherte eine der stämmigen Frauen aus, ging mit wiegenden Hüften zu den Trommlern hinüber und versorgte auch sie mit den erquickenden Wurzeln.
„Eßt! Trinkt!" schrie Hafalii.
Die Frauen und Männer klatschten in die Hände und bewegten sich im Rhythmus der monotonen Musik. Sie stimmten einen eigenartigen dissonanten Singsang an. Tanzend bewegten sie sich auf die Tongefäße zu. Einer nach dem anderen beugte sich tief darüber und atmete mit verzückter Miene die heißen Dämpfe ein.
Hafalii gebärdete sich am wildesten von allen. Er sprang um die Guillotine herum und sprudelte unverständliche Worte hervor. Allmählich arteten die Tanzversuche der Merinas zu einem grotesken Ballett aus. Die Männer sangen heiser und röhrend, die Frauen schrill. Zwei der Krieger schwangen ihre Speere und rangen in einem Scheingefecht miteinander. Sie rissen eine der Fackeln um. Einer der beiden verbrannte sich, schrie aber nicht; er schien den Schmerz überhaupt nicht zu empfinden. Unter der Anleitung des Freaks schlürften die Merinas den streng riechenden Sud. Sie benutzten Holzkellen. Die Ekstase war bereits so weit fortgeschritten, daß sie auch die siedende Hitze des Getränkes nicht auf den Zungen und an den Gaumen spürten; brühheiß stürzten sie es die Kehlen hinunter.
Männer und Frauen umkreisten die Trommler, liefen auf den Händen, wälzten sich auf dem Boden. Der Singsang steigerte sich zu wüstem Gebrüll. Drei Krieger rissen eine Frau mit sich, zerrten ihr das Kleid vom Leib und warfen sie zu Boden.
Hafalii betrachtete dies alles mit größtem Wohlwollen. Quiekend bewegte er sich auf den Henkersapparat zu. Es gelang ihm, die wannenförmig ausgehöhlte Holzbank zu erklimmen. Er wollte noch weiter hinaufklettern, rutschte jedoch vom Pfosten ab und landete hart auf dem Boden. Die Verwünschungen, die er daraufhin von sich gab, waren überaus obszön.
Hafalii kreischte und hüpfte auf der Stelle. Auf seinen Wink hin kamen zwei der hünenhaften Männer herbeigelaufen. Sie stiegen auf die Hinrichtungsbank, hoben den Freak hoch und stemmten ihn empor, daß er an den Querbalken kam, der die beiden Hauptpfosten nach oben hin abschloß. Hafalii hechelte begeistert.
Während unten die Merinas tanzten und sich auf die absonderlichste Weise vergnügten, reckte Hafalii seine vier intakten Hände zum Himmel empor und stieß Beschwörungssprüche aus. „O Herrin der Finsternis, erhöre mich! Schenke mir dein Ohr - nur für ein paar Augenblicke! Große Hekate, ich flehe dich an!"
Er versuchte es mehrmals, und sein Bitten wurde immer eindringlicher. Fast glaubte er schon, ergebnislos abbrechen zu müssen, als sich eine Veränderung zeigte. Der Wirbel verlor an Lautstärke, ja, verstummte beinahe ganz. Ein Loch entstand in der Wolkendecke, und etwas Schmutzigrotes wehte wie eine schleierartige Fahne nach unten. Über den Baumwipfeln am Rand der Lichtung verharrte es.
„Große Hekate", flüsterte der Häßliche ehrfürchtig.
Die roten Schleier ballten sich zusammen. Ein Donnerschlag folgte. Hafalii zuckte unwillkürlich zusammen. Mit gemischten Gefühlen verfolgte er, wie sich Konturen aus dem wirren Schleierwust hervorschälten. Ein höhnisch verzerrtes Antlitz erschien über dem Busch und das Wesen richtete seinen Blick auf Hafalii.
„Große Hekate!" sagte er noch einmal.
Eine Stimme ertönte. Vernehmen konnte sie nur Hafalii. Die Stimme raunte, nannte zweimal seinen Namen, dann fuhr sie fort: „Was willst du von mir, Elender? Was fällt dir ein, meine Kreise zu stören?"
„Große Hekate, ich brauche deinen Rat."
„Ich habe dir bereits mehrfach auseinandergesetzt, was du zu tun hast", kam es flüsternd zurück. „Hast du die Vazimba immer noch nicht vernichtet?"
„Wir sind drauf und dran, sie anzugreifen."
Hafalii fächelte mit Händen und Füßen. Er hatte grenzenlose Angst vor der Hexe Hekate. Ihre Macht hatte er bereits einmal zu spüren bekommen, als er als ihr Diener einen Fehler beging. Sie hatte ihn daraufhin ausgestoßen und zu dem scheußlichen Freak gemacht. Dann hatte sie ihm eine zweite Chance gegeben.
Versagte er wieder, so war es um ihn geschehen.
Er haspelte: „Große Hekate, ich will nur von dir hören, ob der Augenblick günstig ist. Ob wir es ohne Risiko
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