0840 - Das Drachenmädchen
Sukos Ausweis mitgeholfen. Auch hier in der Kronkolonie wirkte die Formel Scotland Yard wie ein Zauberspruch, nur begegneten ihnen die Männer mit einem gewissen Mißtrauen, und man bat sie, in einer Sitzecke die Plätze einzunehmen, denn man wollte den Chef der Wachmannschaft holen, der sich noch auf seiner Runde befand, weil er andere Mitarbeiter in verschiedenen Häusern zu kontrollieren hatte.
Madame Chu versank beinahe in den weichen Polstern der Sessel. Die Lehnen waren zu hoch für sie, so hielt sie die Arme ebenso ausgestreckt wie die Beine. Dazwischen hatte sie ihre Koffer geklemmt, und sie schaute immer wieder auf die Uhr.
»Drängt die Zeit?« fragte Suko.
»Das kann ich nicht so genau sagen. Es wäre aber wichtig, so früh wie möglich hochzufahren und sich dort umzuschauen.«
»Vor der Tageswende also?«
»Wenn möglich, ja.« Ihr Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Das wird wohl nicht mehr ausreichen. Es sind noch knapp fünfzehn Minuten bis zur Tageswende.«
»Der Knabe soll endlich hier auftauchen«, sagte Suko. »Ich möchte den Rest der Nacht noch schlafend verbringen.«
»Glauben Sie daran?«
»Ich versuche es zumindest.«
Madame Chu schüttelte den Kopf. »Nein, das wird kaum möglich sein. Ich weiß nicht, wie lange wir uns hier aufhalten müssen, und ich sage bewußt müssen. Dieser Gegner ist stark. Es wird nicht einfach sein, ihn zurückzudrängen oder ihn zu besiegen, denn er besitzt mehr Möglichkeiten als wir.«
»Welche?«
»Er kann sich zurückziehen, Shao. Er kann plötzlich in eine andere Dimension verschwinden. Im Gegensatz zu uns kennt er die Kanäle, die ihn dort hinbringen.«
»Dann müßten wir ihm folgen.«
»Shao… bitte… nicht so. Das ist nicht möglich. Denken Sie immer daran, daß uns Grenzen gesetzt sind. Wir sind Menschen.«
»Das Drachenmädchen nicht?«
»Es war einmal ein Mensch.«
»Was ist es jetzt?«
Madame Chu machte einen sehr nachdenklichen Eindruck bei ihrer Antwort. »So genau weiß ich es auch nicht. Vielleicht ist sie das, was man eine feinstoffliche Gestalt nennt. Ein Geist, ein Jemand, der auch wandern kann und sich durch nichts aufhalten läßt. Oder hat es je für Geister feste Wände gegeben?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Eben. Und da sind die Kanäle, die das Drachenmädchen benutzt. Zusammen mit seinem Beschützer.«
»Dem Tier?«
»Ja, der Drachenschlange. Auf diesen Begriff sollten wir uns einigen, Shao.«
Suko hatte sich an dem Gespräch zuletzt nicht beteiligt, sondern sich in der Halle umgeschaut, die auf ihn einen futuristischen Eindruck machte. Wenn die Zukunft allerdings so kalt werden würde, wie diese Halle wirkte, dann konnte er auf sie beinahe verzichten. In diesem gewaltigen Komplex gab es nichts zum Wohlfühlen. Die Atmosphäre war eisig.
Dann erschien der Chef der Wachmannschaft. Es war ein Europäer, ein Brite. Hochgewachsen, schlank, mit einem grauen Oberlippenbart. Er trug eine blaue Uniform mit dunkelroten Litzen, schaute verwundert auf die drei Besucher und erhielt von einem seiner Mitarbeiter eine schnelle Erklärung. Der Mann nickte einige Male und kam schließlich auf die Sitzgruppe zu. Er nahm seine Mütze ab und präsentierte einen kahlgeschorenen Kopf. »Mein Name ist Jasper Kent. Ich bin hier so etwas wie der Chef und hörte, daß Sie Yard-Beamter sind.«
Kent setzte sich und bat, den Ausweis sehen zu dürfen. Er prüfte ihn genau und gab ihn Suko dann zurück. Kent kam sofort zur Sache. Er wollte wissen, ob es hier einen Alarm gegeben hatte oder ob eine Gefahr anlag.
»Es wäre möglich«, erwiderte der Inspektor. »Einigen wir uns darauf, daß wir vorbeugen wollen.«
»Aha, präventiv. Nun, was muß ich mir unter dieser Bedrohung vorstellen? Gangster, Terroristen oder…«
»Eher das oder.«
»Wie meinen Sie?«
»Geister.«
Jasper Kent sagte zunächst einmal nichts. Er betrachtete seine Hände, räusperte sich dann und hatte schließlich die richtigen Worte gefunden. »Ja, Geister«, wiederholte er. »Ich lebe seit über vierzig Jahren, war zuvor bei der Hongkong Police und habe so einiges kennengelernt. Ich weiß auch, wie die Menschen hier über Geister denken und wie sie mit ihnen umgehen, da können Sie mir kaum etwas Neues erzählen. Aber hier im Haus gibt es keine Geister. Beim Bau wurde darauf geachtet, daß genügend Fluchtwege für sie freiblieben. Daß sie hinein und auch wieder herauskommen. Deshalb kann ich Ihre Behauptung nicht so recht unterstützen, wenn Sie
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