0840 - Das Drachenmädchen
nicht, was das zu bedeuten hat«, flüsterte sie und ärgerte sich über den Schauer, der ihren Körper bedeckte. Der Vorgang auf der anderen Straßenseite war ihr mehr als unheimlich. Ihnen wurde etwas gezeigt, für das sie keine Erklärung hatten, und auch den weiteren Vorgang verstanden sie nicht, denn das Gesicht begann damit, sich aufzulösen.
Es sah schon ungewöhnlich aus, wie es immer weiter zurücktrat, als wäre die Grasfläche dabei, es zu verschlucken. Das bleichgrüne Leuchten verschwand, der rote, gekrümmte Monsterwurm blieb als letztes Zeichen zurück, aber er löste sich in den folgenden Sekunden ebenfalls auf und kehrte nicht mehr zurück.
Shao und Suko schauten auf den leeren Grasfleck. Suko hob als erstes die Schultern. Er drehte sich dabei ab, schaltete das Licht einer Stehlampe ein und setzte sich in den Sessel. Er schaute zu, wie Shao ihren Platz auf der Bettkante fand.
»Jetzt haben wir etwas gesehen und sind ebenso schlau wie vorher«, sagte sie.
»Stimmt.«
Shao schlug die Beine übereinander. »Was war es für ein Wesen? Welcher Geist hat sich dort gezeigt? War dieser Wurm oder dieses Monster ein Drachengeist?«
»Ist anzunehmen.«
»Mehr sagst du nicht?«
»Himmel, was soll ich denn sagen? Ich bin so schlau wie du. Es gibt zwei Möglichkeiten, nach denen wir uns richten können. Erstens, wir ignorieren das Gesicht und ebenfalls den Monsterwurm und verbringen die letzten beiden Ferientage in Ruhe. Wir können aber auch der Sache nachgehen, um herauszufinden, was dort wirklich gelaufen ist.«
»Da hast du recht.«
Suko lächelte. »Wie ich uns kenne, werden wir eher zu der zweiten Möglichkeit hin tendieren.«
»Stimmt.«
»Du willst es also wissen.«
Shao winkelte ein Bein an und drückte sich mit dem Oberkörper zurück. Dabei stemmte sie sich auf die Ellbogen, den Blick zur Decke gerichtet. »Auch wenn ich nicht mehr das bin, was ich jahrelang war, ich habe mich im Prinzip nicht geändert. Meine Neugierde ist geblieben.«
»Du bist dafür, daß wir der Sache auf den Grund gehen.«
»Ja.«
»Wann?«
Shao hob die Schultern. »Meinetwegen sofort. Wie spät ist es eigentlich?«
»Eine Stunde vor Mitternacht. Wir sind früh schlafen gegangen. Sight seeing in Hongkong schlaucht eben, auch wenn man alte Erinnerungen dabei auffrischt.«
»Ich fühle mich fit.«
Suko nickte und stand auf. »Dann zieh dich an. Wir werden mal nachschauen.«
»Und wie gelangen wir in das Haus?«
»Keine Ahnung. Ich denke aber, daß wir schon eine Möglichkeit finden werden.«
Suko und Shao benötigten nicht mehr als fünf Minuten, um fertig zu sein. Dann verließen sie das Zimmer und waren gespannt darauf, was ihnen noch alles bevorstand…
***
Ten Ho war ein Mann, der das Leben kannte. Von Kindesbeinen an hatte er arbeiten müssen, um sich in diesem Giganten Hongkong zurechtzufinden. Er hielt nichts von der Ästhetik der dichten Bebauung, aber er konnte es auch nicht ändern, und so hatte er sich mit seiner Umgebung arrangiert, des öfteren den Beruf gewechselt, dabei immer ein paar Hongkong-Dollars mehr verdient und es letztendlich geschafft, sich eine Wohnung in Kowloon zu kaufen. Zwar nur ein Zimmer, aber sie gehörte ihm. Zudem war sie neu, denn man hatte ehemalige Kasernen renoviert und umgebaut.
Inzwischen war Ten Ho fünfzig Jahre und damit in ein Alter gekommen, wo man anfing, nachzudenken. Es hatte keinen Sinn mehr, auf die Jugend und die Flexibilität zu spekulieren, die wurde in dieser Stadt nur akzeptiert, wenn jemand jung war. Er wollte sich auch beruflich nicht mehr verändern.
Ten Ho arbeitete als Nachtwächter und Sicherheitsbeamter im Ferry Building, einem sehr hohen Haus, in dem nur Büroräume vermietet wurden. Das Gebäude war nach dem Architekten benannt worden, der es gebaut hatte. Es war ein Engländer gewesen, der sich hier hatte austoben können.
In diesem Bau war alles vorhanden, was der arbeitende Mensch benötigte. Das fing bei den modernsten Kommunikationsmitteln an und hörte bei Kantinen, Fitneß- und Ruheräumen auf.
Zehn Fahrstühle standen zur Verfügung, die Menschenmassen an ihre Arbeitsplätze zu bringen.
Natürlich überwachte Ten Ho das Gebäude nicht allein. Drei weitere Kollegen teilten sich mit ihm die Arbeit, wobei zwei stets vor den Monitoren saßen, deren Kameras gegen die Eingangstür gerichtet waren. Die tagsüber hell erleuchtete Marmorhalle zerfloß in den Nachtstunden zu einem grauen Schattenfluß, denn nur wenige in die Decke
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