0853 - Die vier aus der Totenwelt
begriffen. Dunkelheit bedeutete nichts Gutes, egal, ob im Diesseits oder im Jenseits, und sie wollte auch wissen, warum es so dunkel war.
»Grab…«
Ein kalter Schauer rieselte über ihre Arme. Die Gänsehaut blieb da wie eingezeichnet. Warum hatten ihre Kinder ausgerechnet von einem Grab gesprochen – warum?
Sie kam damit nicht zurecht. Lagen ihre Körper in irgendwelchen Gräbern, und waren nur die Seelen oder Geister aus der Tiefe wieder zurückgekehrt, um sich den Menschen zu zeigen?
»Warum Grab…?«
»Es ist so kalt…«
Alida riß sich zusammen. Sie wollte mehr wissen und legte auch keine große Pausen zwischen ihren Fragen ein. »Wo kann ich eure Gräber sehen? Wo kann ich sie finden und euch besuchen? Bitte, sagt es. Ich… ich möchte hin. Euer Vater auch. Was ist geschehen? Ist es die Kälte des Wassers gewesen?«
»Nein…«
»Was? Bitte, redet!«
»Die Gestalt…«
Mehr hörte die Frau nicht. Aber es war wieder ein Begriff in die Diskussion geworfen worden, mit dem sie nicht zurechtkam. Sie hatten von einer Gestalt gesprochen, ja, diesmal beide zugleich, das war Alida wohl bewußt gewesen.
»Was war mit ihr?«
»Sie war da…«
»Weiter, weiter!« Alida hatte vergessen, daß sie nicht mit zwei normalen Menschen sprach. Ihr kam es nur darauf an, Antworten zu erhalten. Sie wollte das Verschwinden und auch den Tod ihrer beiden Kinder endlich aufgeklärt wissen.
»Sie holte uns…«
»Wohin?«
»Weg…«
»Aus dem Wasser?« Alida krampfte sich zusammen. Ihre Hände zuckten. Sie krallten sich in die Decke hinein und klemmten den Stoff in die Lücken zwischen die Finger. Die Frau spürte, daß sie der Aufklärung dieses geheimnisvollen Tags sehr nahe war. Sie stand bereits vor der Tür und brauchte diese nur aufzustoßen. Ein Schritt, mehr nicht. Wenige Worte noch, die ihr halfen.
»Das Grab…«
Wieder fiel dieser verfluchte Ausdruck, der Alida Angst einjagte.
Vor Gräbern hatte sie sich immer gefürchtet. Vor offenen ebenso wie vor geschlossenen. Warum erzählten ihre Kinder von einem Grab?
Waren sie doch dort hineingelegt worden?
»Wo ist das Grab?«
»Nicht im Wasser…«
Im Bett liegend atmete Alida scharf aus. Nicht im Wasser, nicht im Wasser! schoß es ihr durch den Kopf. Meine Güte, das… das war doch nicht möglich. Sie hatten das Boot kieloben treiben sehen. Es gab nur die Möglichkeit. Nelly und Jimmy waren zusammen mit ihren Freunden Helen und Gil ertrunken.
Die beiden mußten da etwas durcheinander werfen. Sie mußten das nasse Grab mit dem normalen verwechseln. Für die Frau gab es keine andere Möglichkeit.
Plötzlich, ohne daß Alida eine Frage gestellt hätte, schwang wieder die neutrale Stimme über das Bett.
»Nicht tot…«
Sie wollte es nicht glauben. Sie hatte sich verhört. Sie mußte sich geirrt haben. Das konnte einfach nicht sein. Das gab es nicht. Sie waren tot, sie… sie waren gekentert. Oder hatten sie sich retten können? Nein, unmöglich. Dann hätte man sie außerhalb des Gewässers gefunden oder sie hätten sich mit den Eltern in Verbindung gesetzt.
Was da gesagt wurde, stimmte einfach nicht. Die beiden Geistgestalten logen, sie wollten sie auf eine falsche Fährte locken.
Wenn sie nicht tot waren, hätten sie nicht als derartig fremde Gestalten bei ihnen zu erscheinen müssen.
»Warum?« flüsterte sie, als wäre ein Damm gebrochen, der ihr endlich freie Bahn gab. »Warum das alles, lieber Himmel? Was ist die Wahrheit, und was ist Lüge?«
»Die Gestalt…«
Wieder hörte sie davon. Zwar befand sich Alida in einem Zustand, den sie selbst kaum beschreiben konnte, aber es hatte sich doch eine gewisse Klarheit gebildet, und sie wußte plötzlich, daß es noch eine dritte Person geben mußte.
Eben die Gestalt!
Wer oder was war sie? Alida wußte nichts, sie konnte sich auch nichts vorstellen, wollte natürlich fragen, doch die anderen kamen ihr dabei zuvor.
»Es ist so kalt… wir finden den Weg nicht mehr … wir sind verflucht … wir suchen … die Gestalt … sie ist mächtig …«
Alida Wayne hörte mit offenem Mund zu. Sie konnte es nicht fassen. Zugleich hatte sie das Gefühl, als wären diese Worte so etwas wie ein Abschied der beiden gewesen.
Bisher hatte sie flach auf dem Rücken gelegen. Nun aber überwand sich die Frau selbst. Die Arme winkelte sie an. Es geschah mit sanften Bewegungen, sie wollte auf keinen Fall, daß ihre »Kinder« auf das Vorhaben zu früh aufmerksam wurden. Dann, als sie die richtige Stellung erreicht
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