0862 - Der Leichenmantel
erfroren, weil er keine Kleidung hatte.«
»Dann ist er doch tot.«
Carla seufzte. »Sollte man annehmen.«
»Du nimmst es nicht an?«
»Ich bin mir aber nicht sicher.«
»Was bedeutet das?«
»Die alte Frau hat es gehört. Sie hat ihn reden gehört. Kurz vor seinem Tod muß er die Menschen verflucht haben, die einmal das Kloster betreten haben. Er hat gesagt, daß er sich einen Mantel aus Menschenhaut herstellen würde, daß ihm der Teufel dabei helfen würde, denn er würde ihn und andere Dämonen gut genug kennen. Er würde sich später einen Leichenmantel herstellen. Er hat schauerlich gelacht und erklärt, daß er schon dafür sorgen würde, nicht in Vergessenheit zu geraten.«
Naomi hatte zugehört. Ihr Mund stand offen. Die Augen bildeten zwei staunende Kreise. »Ja«, flüsterte sie nach einer Weile. »Ja, ich denke, das ist es.«
»Was ist was?«
»Die Gefahr, Carla. Die Gefahr, die ich gespürt habe. Jemand hat sich befreit, sage ich dir. Jemand ist unterwegs. Ich spüre ihn genau. Da ist etwas Furchtbares geschehen, das keiner begreifen kann und will. Aber ich spüre, daß es zurückkehrt.«
»Du meinst ihn?«
»Ja, den mit dem Leichenmantel. Er kommt. Er hat sich gelöst. Er hat seinen Mantel fertig.«
»Sag nicht so etwas!« zischelte Carla und erhob sich. »Bitte, das kannst du nicht tun.«
»Doch, Carla, das kann ich. Du darfst nicht die Augen verschließen. Du mußt die anderen warnen und auch die beiden Fremden, die uns geholfen haben. Sie müssen alles wissen, denn nur sie können das Grauen und den Tod stoppen.«
»Aber da ist nichts.«
»Stimmt, Carla da ist nichts. Da ist noch nichts, denke daran. Aber es wird etwas sein, das kann ich dir versprechen. Ich habe es noch nicht gesehen, aber ich habe es gespürt. Das Grauen kommt. Der Tod ist unterwegs, und er hat sich eingehüllt in einen Mantel aus Leichen. Dieses Kloster ist verflucht, es ist ein Ort des Bösen. Ihr… ihr solltet es abbrennen, dem Erdboden gleichmachen. Dann habt ihr vielleicht die Reinigung. Ich liege hier fest, ich kann es nicht, aber wenn du mit den beiden Männern sprichst, habt ihr vielleicht eine Chance. Sie würden es tun, sie würden dich bestimmt unterstützen, daran glaube ich fest.«
»Meinst du?«
»Ja.«
»Aber sie lachen mich aus.«
»Nein, nein.« Naomi sprach hektisch. Auf ihren Wangen zeichneten sich rote Inseln ab. Sie war in ihrem Element, und sie fühlte sich nicht mehr als Kranke. »Du mußt die Dinge anders sehen und alles Störende beiseite lassen.«
»Das kann ich ja versuchen.«
»Es ist wichtig, es ist ungemein wichtig, für uns alle. Für das Dorf, für die Menschen. Oder willst du sterben? Dieser Leichensammler ist bestimmt noch nicht fertig. Er macht weiter. Er ist… er ist… ein furchtbares Geschöpf. Ich kann ihn nicht als einen Menschen ansehen, tut mir leid. Das ist ein Geschöpf der Hölle… der Hölle…« Sie rang plötzlich nach Atem und verstummte.
Carla hatte sich über Naomi gebeugt und sie an den Schultern angefaßt. So schaute sie in ihr Gesicht. »Bitte, du darfst dich nicht aufregen. Du mußt ruhig bleiben.«
»Ja, ich weiß.«
»Versprichst du mir das?«
Naomi lächelte schwach. »Ich werde es versuchen, aber auch du mußt mir etwas versprechen.«
»Gut, abgemacht.«
Naomi holte noch einmal Luft, wobei sie auch ihre Gedanken sammelte.
»Du mußt mit den beiden Männern reden und ihnen Bescheid sagen. Verspricht du mir das?«
»Ich werde sie finden, Naomi, aber sie wissen bereits Bescheid. Ich kenne ja die Geschichte sehr gut, und ich habe sie ihnen schon erzählt.«
»Was?« staunte die Kranke. »Du hast sie ihnen…«
»Ja, erzählt.«
»Und was ist passiert?«
»Nichts, denke ich. Sie wollten noch zum Kloster gehen und sich überzeugen.«
»Dann können sie tot sein.«
Carla zuckte zurück. »Bitte, sag doch nicht so etwas. Warum sollen sie tot sein?«
»Ich weiß es ja auch nicht. Aber sie sind Menschen, und der andere… der andere ist…«
»So«, sagte Carla in den Satz hinein. »Du bleibst jetzt hier ruhig liegen. Ich werde gehen und die Männer suchen. Ich werde mit ihnen reden, und sicherlich wollen sie dann zu dir kommen und noch einige Einzelheiten hören.«
»Das wäre gut.«
Carla lächelte, bevor sie einen Finger auf ihre Lippen legte. »Zu keinem ein Wort!«
»Versprochen. Und sag du deinen Eltern auch nichts.«
»Darauf kannst du dich verlassen.« Carla ging zurück und winkte Naomi noch zu. »Es bleibt unser Geheimnis.«
Ja,
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