0864 - Karas grausame Schwester
Fingerbreit stand der Spalt auf. Kara zog ihr Schwert. Sie hörte nur das schabende Geräusch, als es aus der Scheide rutschte.
Ein wenig trat sie zurück, um Platz zu haben. Dann schob sie die Klinge in den Spalt und benutzte die Waffe als Hebel, um die Tür zu öffnen. Sie drückte sie nach innen. Kara blieb nichts anderes übrig, als den dabei entstehenden Geräuschen zu lauschen, die ihr nicht gefielen, denn das Knarren klang in der Stille sehr laut.
Ein dunkler Raum tat sich vor ihr auf. Nichts war zu sehen. Keine Bewegung, und sie hörte auch keinen Laut. Kara achtete auf Atemzüge, aber auch sie vermißte sie.
Sie fühlte es, sie spürte es, sie war sensibel genug. Ich befinde mich nicht allein in diesem Haus, dachte sie. Wer immer sich auch hier aufhalten mag, er ist ein Mensch und kein Tier. Ich weiß es, ich kann mich danach richten, ich kann ihn riechen.
Es war kalt. Kein Feuer brannte mehr. Aber es hatte gebrannt, denn sie roch die kalte Asche. Und sie roch noch mehr, denn in diesen Geruch mischte sich ein anderer.
Der des Todes…
Karas Kehle zog sich zusammen, als sie den ersten Schritt ging. Mittlerweile hatten sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt. Es war nicht so dunkel wie sonst, denn durch die beiden Fenster floß das graue Dämmerlicht.
Es breitete sich sehr günstig aus, denn es floß über bestimmte Gegenstände, die Kara auch erkennen konnte.
An der rechten Seite sah sie den eingebauten Kamin. Von dort wehte ihr auch der Geruch der kalten Asche entgegen.
Links stand das Bett, die Liegestatt. Und es war belegt. Nicht überdeutlich, aber doch erkennbar zeichnete sie auf der Liegestatt den Umriß einer Gestalt ab.
Das mußte Jinneth sein.
Aber sie rührte sich nicht. Auch dann nicht, als Kara fest auftrat, um auf sich aufmerksam zu machen.
Erst neben der Liegestatt blieb sie stehen.
Sie beugte sich herab.
Während der Bewegung sah sie den hellen Fleck deutlicher werden. Es war das Gesicht der Frau, das in diesem Dämmerlicht glänzte wie kaltes Fett.
Und es war ohne Regung.
Wie das einer Toten!
Kara wollte es genauer wissen. Sie brauchte Licht, auch wenn ihr die starren Augen die Wahrheit sagten. Zudem mußte sie das finden, was sie ihrem Vater mitbringen sollte. Falls es nicht ein anderer - unter Umständen der Mörder - mitgenommen hatte, mußte es einfach in diesem Raum vorhanden sein.
Kara suchte und fand eine Ölleuchte.
Sie stieß mit dem Fuß dagegen. Metall kratzte über den harten Belag des Bodens, und Kara fand auch noch die Feuersteine, mit denen sie das Feuer entfachen konnte.
Sie schlug die Steine gegeneinander. Funken sprühten auf und das Öl fing Feuer. Dünne Flammen huschten in die Höhe, blaß und durchsichtig, aber sie reichten aus, um die nähere Umgebung der im Bett liegenden Frau sichtbar werden zu lassen.
Über dem Kopfende der Liegestatt stellte Kara die Schale ab. Das spärliche Licht erreichte auch das blasse Gesicht der Frau. Kara stellte mit einem Blick fest, daß Jinneth nicht mehr lebte. Jemand hatte sie brutal umgebracht. Blut klebte auf ihren Lippen und anderen Hautpartien. Es stammte aus einer Wunde an der Kehle, die von einem spitzen Gegenstand durchbohrt worden war. Trotz der dunklen Hinterlassenschaft des Blutes kam Kara das Gesicht der Toten so unnatürlich bleich vor, die Haut erinnerte sie noch immer an das weiche Fett. Sie hatte Jinneth nicht gekannt. Da ihr Vater dieser Frau vertraut hatte, mußte sie ein guter Mensch gewesen sein. Es ging Kara jetzt darum, die Botschaft zu finden, die sie ihrem Vater hatte mitbringen wollen.
Sie drückte der Toten die Augen zu. Für einen Moment preßte sie hart die Lippen zusammen, atmete durch die Nase ein und stand auf. Noch einmal blickte sie auf die Leiche nieder, deren Umrisse im flackernden Licht verschwanden.
Dann drehte sie sich um, verließ aber noch nicht das Haus, denn die Botschaft war wichtig.
Trotzdem ging Kara bis zur Tür und schaute hinaus. Sie wollte sich die nähere Umgebung anschauen, auch wenn die Dunkelheit den kleinen Ort umschlossen hielt.
Es war still. Keine Stimmen waren zu hören, was auf eine menschliche Existenz hingewiesen hätte.
Diese Ansammlung von Häusern glich einem Dorf der Toten.
Kara wartete noch einige Sekunden, bis sie wieder in das Dunkel des Hauses eintauchte. Sie mußte die Botschaft finden, ihr Vater sollte nicht enttäuscht werden.
Die Frau dachte nach.
Sie wußte, daß Botschaften eingerollt würden. Man steckte sie in Hülsen,
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