0866 - Rattennacht
Dafür rochen sie die Abgase der Autos, sie sahen Menschen, sie sahen Hunde als einzige Tiere, aber keine Ratten.
»Gut«, sagte Shao, nachdem sie aufgeatmet hatte. »Wohin geht es jetzt?«
»Zum Friedhof.«
»Und John?«
»Wird frühestens am späten Nachmittag eintreffen. Ich habe mich an der Rezeption erkundigt. Die Maschine aus Neapel landet erst später. Bis dahin könnten wir eine neue Spur gefunden haben.«
»Wie du willst.« Wohl war Shao nicht. Und dieses Gefühl blieb auch, als sie in die Metro-Station abtauchten.
***
Wer in Paris schnell vorankommen will, der muß sich einfach auf die Metro verlassen. Außerhalb der Hauptverkehrszeiten bekam man immer einen Sitzplatz.
Anhand eines Plans hatten sie sich orientieren können, und sie mußten mit der Linie 3 fahren. An der Südseite des Friedhofs war die Metro-Station Père Lachaise.
Die Metro-Stationen waren das unterirdische Spiegelbild einer gewaltigen und einmaligen Stadt.
Auch dort bewegten sich die unterschiedlichsten Typen, da sammelten sich alle Rassen und Hautfarben, da durchdrang nicht nur das Rattern der Züge die Stationen, es mischten sich auch Musikklänge dazwischen, denn immer wieder traten in diesem unterirdischen Bereich Künstler auf, Selbstdarsteller, die sich so ihre persönliche Freiheit finanzierten.
Auf dem Bahnsteig tanzten Männer und Frauen ihren Kasatschok, sangen dabei die Lieder ihrer Heimat und gaben sich ausgelassen.
Das alles paßte zu Paris, war friedlich, aber gerade an Frieden dachten Suko und Shao nicht.
Ihre Gedanken drehten sich um die Ratten und auch um deren Verfolgung oder Beobachtung. Immer wieder schauten sie sich um, ließen die Blicke auch über den Boden streifen, sahen aber nur normale Füße und nicht die einer Ratte.
»In diesem Trubel wirst du sie nie entdecken können«, sagte Suko. »Stimmt, aber ich brauche einfach diese relative Sicherheit.«
Suko lächelte nur.
Zusammen mit anderen Fahrgästen bauten sie sich am Bahnsteig auf. Beide sprachen nicht, doch beide hatten den Eindruck, von irgendwelchen Augen beobachtet zu werden, ohne zu wissen, wer sich dahinter verbarg.
Zwei kleine Kinder drängten sich gegen Suko. Die Mutter war nicht in der Lage, sie zu bändigen.
Sie schimpfte zwar, aber die Kleinen tobten trotzdem herum, auch dann noch, als der Zug einfuhr.
Kurzerhand griffen Shao und Suko zu. Sie hielten die beiden fest, die vor Schreck steif geworden waren, und stellten sie erst wieder ab, als der Zug gestoppt hatte.
»Merci«, sagte die gestreßte Mutter. »Aber man kann sie ja nicht festbinden.«
»Nein, das nicht.«
Mit dem Einsteigen ließen sie sich Zeit. Suko und Shao gehörten zu den letzten Fahrgästen, die den Wagen betraten. Bevor der Inspektor auch seinen linken Fuß in den Wagen setzte, schaute er sich noch einmal um, ohne allerdings etwas erkennen zu können, was ihm verdächtig vorgekommen wäre. Keine Ratten…
Die Tür schloß sich.
Im Wagen herrschte eine dumpfe Hitze. Sie war leider nicht geruchlos. Da mischten sich Düfte wie Schweiß, Mottenpulver und Parfüm, so daß die Fahrgäste kaum Luft bekamen. Sie standen oder saßen mit stoischen Gesichtsausdrücken auf ihren Plätzen.
Suko und Shao hatten sich nicht gesetzt. Sie hielten sich an einem Wagenende auf und erhielten so die Chance, alles zu überblicken. Auch den Boden suchten sie ab. Er war schmutzig. Zeitungen lagen dort herum, über die hin und wieder leere, von ihren Käufern weggeworfene Bier- und Limodosen rollten.
Sie konnten nicht allen Fahrgästen in die Gesichter schauen. Ungefähr die Hälfte der sitzenden Menschen drehte ihnen den Rücken zu, und es gab einen, der sich während der Fahrt erhob.
Nicht einmal weit von den beiden entfernt stand er auf. Er drehte sich um und schaute sie an.
Er war es!
Absalom!
Sie sagten nichts, und auch der Mann blieb stumm. Er trug dieselbe Kleidung wie am Abend. In seinen Augen leuchtete dieser blaue Ausdruck beinahe überirdisch. Der lange, wie aus Sackleinen bestehende Mantel reichte ihm bis zu den Waden. Er war sehr weit geschnitten, und unter ihm ließ sich schon etwas verbergen.
Der Mann schaffte es, die Schwankungen des Wagens auszugleichen. Er kam auf Shao und Suko zu, die sich jeweils an einer Haltestange festhielten.
Absalom lächelte. Welche Farbe sein struppiges Haar einmal gehabt hatte, wußte niemand so genau zu sagen.
»So sieht man sich wieder«, sagte er.
»Stimmt.« Suko nickte. »Sie haben uns ja wohl nicht aus den Augen gelassen,
Weitere Kostenlose Bücher