0866 - Rattennacht
mit. Zu sehr hatte er sich auf Absalom konzentriert, der nach wie vor in seinem Griff hing. Aber Suko hatte ihn mittlerweile kennengelernt. Er wußte genau, daß dieser Mann nichts zu verlieren hatte und auch nicht bluffte. Deshalb würde er nachgeben müssen, um nicht unschuldige Menschen in Lebensgefahr zu bringen. Sollte ein Fahrgast durch einen Rattenbiß sterben, wobei er Shao mit einschloß, trug er die Verantwortung.
Suko ließ den Mann los.
Der huschte sofort zur Seite. Er drehte sich dem Ausgang zu, und als er grinste, glich die Haut in seinem Gesicht für einen Moment einem verzerrten Wurzelwerk.
Er pfiff.
Die beiden Ratten lösten sich von Shaos Schultern. Sie flogen dicht an Sukos Kopf vorbei, direkt auf die offene Wagentür zu, und landeten auf dem Bahnsteig.
Andere hatten sich bereits zu ihnen gesellt. Die einsteigenden Fahrgäste waren in Panik geraten.
Schreiend drängten sie weg von dem Wagen. Sie hetzten in die Station hinein und rannten, als säße ihnen der Teufel im Nacken.
Absalom stand zwischen seinen Tieren wie die Figur des Rattenfängers aus der Sage. Er hatte die Arme ausgebreitet, drehte sich und pfiff dabei. Dann lief er weg, und die Ratten nahmen die Verfolgung auf. Sie blieben bei ihm, sie blieben in seiner Nähe, sie sprangen gegen ihn, sie ließen sich von ihm tragen, und einige schlüpften auch wieder unter den Mantel.
Jemand hatte Alarm gegeben. In der Station heulte eine Sirene auf. Ihr Geräusch übertönte selbst das Schreien der Menschen, die von der Panik und nackten Angst umkrallt waren, nicht wußten, wohin sie laufen sollten, sich dabei gegenseitig störten und sich auch schon mal überrannten. Das Chaos war perfekt.
Suko und Shao hatten den Wagen verlassen. Auf dem Bahnsteig gerieten sie in das Durcheinander.
Um Absalom zu verfolgen, mußten sie sich erst einen Weg bahnen, was schwer genug war, denn jetzt stürmten auch noch die Fahrgäste aus dem Wagen auf sie zu.
Es verging kostbare Zeit, die Absalom nutzte.
Er war verschwunden.
Abgetaucht in irgendein Rattenloch, einen Schlupfwinkel, den er sich möglicherweise selbst geschaffen hatte. Suko glaubte nicht daran, daß er die Treppe hoch an die Oberwelt gelaufen war, er rechnete damit, daß der Tunnel ihn geschluckt hatte.
Folgen wollte Suko ihm nicht. Er hatte anderes vor. Um nicht mit der Polizei zu kollidieren, zischte er Shao zu, daß beide sofort verschwinden sollten.
Sie stellte keine Fragen und nickte nur.
Diesmal kam ihnen das Durcheinander zugute. Sie schafften es bis zur Treppe, als die ersten Flics die Station stürmten.
Die Uniformierten liefen an Suko und Shao vorbei, ohne sie mit eines Blickes zu würdigen. Ihr Ziel war dort, wo die Schreie der Menschen aufgellten.
Wieder am Tageslicht, atmeten beide tief durch. An einer Plakatsäule blieben sie stehen. Shao schaute Suko leicht verzerrt an und richtete ihre Kleidung.
»Verletzt bist du nicht - oder?«
»Nein. Die Ratten haben nur auf meiner Schulter gehockt. Sie bissen zum Glück nicht zu.«
»Das ist gut.«
»Was machen wir?«
»Laß uns ein paar Schritte gehen.«
»Und dann?«
»Irgend etwas trinken.«
»Auch gut.«
Sie fanden in der Nähe ein Bistro, setzten sich aber nicht vor das Lokal, sondern nahmen in seinem Innern Platz, wo es zwar muffig roch, aber kühler war.
Beide bestellten Wasser. Der Wirt kassierte sofort. Er hatte Arme wie ein Metzgermeister.
Shao trank. Sie strich ihre Haare zurück und nickte. »Wir haben es überstanden, für diesmal, aber ich glaube nicht, daß es vorbei ist. Ich gehe sogar davon aus, daß sich Absalom wieder gefangen hat und uns auch weiterhin unter Kontrolle halten wird.«
»Damit kannst du recht haben.«
»Demnach sollten wir auf Ratten achten - oder?«
Suko leerte sein Glas und drückte sich zurück. Dann goß er aus der bauchigen Flasche nach. »Damit könntest du recht haben.«
Shao schaute sich im Bistro um. Auf dem Boden lief keine Ratte umher. Sie sah nur die Steinfliesen, die an den Rändern helle Streifen zeigten und nur in der Mitte braunrot zuliefen.
Hinter der Scheibe zeichnete sich die andere Welt ab, die der Genießer und Müßiggänger, die vor dem Laden saßen und sich unter den Sonnenschirmen duckten.
Paris kochte, die Stadt dampfte, und die Stadt erstickte beinahe unter einer Hitzeglocke, die eigentlich immer erst für den August erwartet wurde, wo die Franzosen selbst Ferien hatten und Paris den Touristen überließen.
»Wir wissen noch immer nicht, wer er ist, Suko.
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