0866 - Rattennacht
der Metro-Station geflüchtet. Es kann sein, daß zahlreiche Zeugen befragt worden sind und sich zumindest einige an uns erinnern. Da denke ich nur an die Mädchen mit den Gitarren. Vielleicht sucht man bereits nach uns. Es gibt so viele asiatische Paare hier in Paris, daß es schwer sein wird, uns zu finden. Das kannst du mir glauben.«
»Da könnten wir Glück haben.«
»Was nicht heißen soll«, fuhr Shao fort, »daß wir den Kollegen später nicht Bescheid geben.«
Damit war ich einverstanden und wollte dann wissen, ob sie schon ihr Zimmer gesehen hatten.
»Wir kamen zurück und haben an der Rezeption deine Nachricht gefunden. Dann sind wir sofort hoch zu dir gefahren.«
Suko wandte sich bereits der Tür zu. »Dann werden wir mal nachschauen, ob sich Ratten Zutritt zu unserem Zimmer verschafft haben. Schlau sind sie ja«, kommentierte er bissig.
Wir waren vorsichtig. Im Gang bewegte sich nichts, uns ausgenommen! Keine anderen Menschen, erst recht keine Ratten. Hier war alles normal, hier tat sich nichts. Nur der vollbepackte Wagen des Zimmermädchens war verschwunden.
Suko schob die Codekarte in den Schlitz, wartete auf das Blinken der Kontrolleuchte und drehte den Knauf.
Wenn uns jemand beobachtet hätte, er hätte wirklich lachen können, so vorsichtig betraten wir hintereinander das Zimmer und durchsuchten es an drei verschiedenen Stellen, wobei wir auch nicht vergaßen, unter dem Bett und im Schrank nachzuschauen.
Es gab keine Ratte.
Weder eine tote, noch eine lebende.
Nichts mehr…
Suko stand neben dem Fenster und hob die Schultern. Auch die Scheibe war geschlossen. »Da haben sie es wohl nicht geschafft«, bemerkte er.
»Ich kann mich trotzdem nicht freuen«, sagte Shao. Sie saß auf der Bettkante. »Dieser Absalom ist raffiniert, er ist gefährlich, und er weiß auch genau, wie mächtig er ist, denn er kann sich auf die Kraft seiner Ratten verlassen und ebenfalls darauf, daß er es schafft, mit ihnen zu kommunizieren.«
Ich schnickte mit den Fingern. »Ihr seid also davon überzeugt, daß er auf telepathischem Weg mit seinen Tierchen in Verbindung steht.«
»Und wie.«
Ich hob die Schultern. »Er heißt Absalom, nennt sich wie ein Brudermörder aus der Bibel. Er hätte auch Kain heißen können. Warum Absalom?«
»Vielleicht heißt er wirklich so«, meinte Suko.
»Glaubst du das?«
»Damit muß man rechnen.«
»Wenn du mehr wissen willst, mußt du ihn fragen.«
Ich grinste schief. »Natürlich auf dem Friedhof.«
»Aber sicher. Noch eine Frage. Würdest du dich selbst als prominent bezeichnen?«
»Nein, warum?«
»Dann brauchst du wirklich keine Angst davor zu haben, daß man dir auf diesem Friedhof ein Grab zuteilt…«
Nun ja, ich sagte nichts. Sukos Witze waren auch schon besser gewesen.
***
Die Unterwelt von Paris!
Ein Labyrinth unter der großen Hektik. Gewaltig, kaum zu begreifen. Feindlich für Menschen und doch immer wieder etwas Besonderes und auch anziehend.
Bei Jugendlichen war es in, irgendwo in die Unterwelt einzusteigen, loszugehen und sich dann überraschen zu lassen, wo man wieder ans Tageslicht kam. Es war eine menschenfeindliche Welt, mit ihrem Dreck und Gestank, aber die aus der Oberwelt suchten eben immer einen neuen Kick. Das Leben gab ihnen nicht genug, es war einfach nicht spannend. Da mußte man sich schon etwas einfallen lassen und in den Bauch des schlafenden Tigers klettern.
Und doch gab es Lebewesen, die sich in den Kanälen wohl fühlten. Für sie war das Abwasser wie eine herrliche immer wiederkehrende Dusche. Der Gestank gefiel ihnen, er machte sie an, sie genossen ihn ebenso wie das Rauschen des Wassers, das als schmutzige Brühe durch die Kanäle strömte.
Ratten fanden sich immer zurecht.
Und Absalom gehörte zu ihnen.
Er war ein Mensch, keine Ratte, aber er hatte seine Verstecke. In der Kanalisation kannte er sich aus. Er wußte auch, wie er von gewissen Metro-Haltestellen in diese Unterwelt gelangte. Überall gab es Zutritte und Schächte. Versteckt die meisten, nur Eingeweihten bekannt, zu denen er sich zählte.
Eintauchen, verschwinden, plötzlich wieder erscheinen und über den Friedhof gehen.
Auch an diesem Tag war er verschwunden.
Es ärgerte Absalom, daß die Sache in der U-Bahn schiefgelaufen war. Er hatte die Stärke der beiden Chinesen einfach unterschätzt. Die hatten sich nicht aus dem Spiel bluffen lassen, etwas, das bei normalen Menschen nur selten vorkam, wenn er und seine Ratten erschienen. Die meisten rannten voller
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