0867 - Die Pesthexe von Wien
der hier bei uns an einer Kirchenmauer steht. Ich habe sofort erkannt, welch wunderbares Gefäß das ist. Es mag vermessen klingen, aber es schien mir ein bisschen wie der Abendmahlkelch Christi zu sein. So dankte ich dem Heiligen und nahm den Kelch an mich.«
»Äh, ja, daran tatest du gut, Bruder. Und woher weißt du, dass du ihn herumtragen sollst?«
»Das, mein lieber Abraham, träumte mir bald darauf.« Er beugte sich verschwörerisch zu dem Augustiner hinüber und genoss die unverhoffte Aufmerksamkeit, die er von dem berühmten Mann erhielt. »Ja, Borromäus persönlich erschien mir im Traum und sprach zu mir. Er sagte auch, dass ich den heiligen Kelch kreuz und quer durch die Straßen Wiens tragen soll.«
Abraham a Sancta Clara erschrak. »Und das hast du getan?«
»Viele Male schon.«
»Du bist ein wahrhaft frommer Mann, Bruder Nestroy«, schmeichelte ihm der Augustiner. »Und wenn dir Heilige im Traum erscheinen, hast du vielleicht sogar selbst das Zeug zum Heiligen.«
»Mmeinst du?« Nestroy sah ihn mit großen Augen an. »Ich?«
»Aber natürlich, lieber Bruder. Ich werde mich beim Bischof dafür einsetzen.«
»Das willst du wirklich tun?«
»So wahr ich Abraham a Sancta Clara heiße. Doch dafür musst du mir den Kelch eine Weile lang überlassen, damit man ihn auf seine Echtheit hin prüfen kann. Er ist doch echt, oder etwa nicht?«
»Natürlich, natürlich. Du kannst ihn mitnehmen, Bruder Abraham. Du musst ihn mir nur wiederbringen. Ich ein Heiliger?«
»Zumindest zum Seligwerden sollte es reichen.«
»Ooooh, das ist… das ist wirklich…« Dem Pfarrer stand die Gier nach Ruhm und Seligkeit nun offen ins Gesicht geschrieben. Er glaubte dem Augustiner jedes Wort und händigte ihm den Kelch und dazu noch eine Tasche aus.
»Ach ja, lieber Bruder Nestroy, und wenn wir schon dabei sind, könntest du uns vielleicht für die Nacht ein paar kräftige Männer mit Schaufeln organisieren, die uns bei einer geheimen, wenngleich doch gottgefälligen Arbeit helfen?«
Das tat der Pfarrer gerne.
»Abraham, du kannst ja lügen, dass sich die Balken biegen«, tadelte ihn Franziskus, als sie sich auf dem Rückweg nach Wien befanden. »Machst der einfältigen Pfarrersseele unberechtigte Hoffnungen, nur, um etwas zu bekommen.«
»Der Zweck heiligt in diesem Fall die Mittel, Freund. Ich werde mir dafür selbst vier Vaterunser als Buße auferlegen.« Er lächelte kurz, wurde gleich darauf aber wieder ernst. »Wir müssen diesen Kelch unbedingt vernichten. Sonst nimmt das Sterben kein Ende. Was ist dagegen eine kleine Lüge?«
Nach Einbruch der Dunkelheit kamen die Mönche zurück zur Karmeliterkirche. Vier kräftige Männer mit Schaufeln und einer zweirädrigen Karre warteten auf sie. Abraham gab ihnen den Segen. Dann zogen sie zur Stadt hinaus und gingen einen schmalen Weg entlang, der ein Stück weit durch Wiesen und Felder führte. An einer Wegkreuzung mit einer großen Eiche verharrten sie. Abraham hieß die Männer, den unter dem Baum befindlichen Schindanger aufzugraben. Sie gehorchten ihm ohne zu zögern. Nach zwei Stunden harter Arbeit lagen die Pestleichen frei im kalten Sternenlicht. Kreuz und quer übereinandergeworfen, schon ein wenig verwest, boten sie einen grauenhaften Anblick. Abraham atmete tief durch, band sich ein Tuch vor den Mund, zog Handschuhe an und stieg in die Grube. Dort räumte er die Toten beiseite, bis er auf das Hexenskelett stieß. Die heilige Kreuzpartikel steckte nach wie vor im Rippenbogen. Zusammen mit Franziskus hievte er die Knochen, die nicht auseinanderfielen, aus der Grube. So konnten sie das komplette Skelett in Decken hüllen und auf den Wagen legen. Die Helfer zogen den Karren bis in die Nähe der Stadttore. Dort übernahmen ihn die beiden Mönche. Sie bestachen eine Torwächtermannschaft und konnten den Karren in die Stadt schieben. Scheu wichen ihnen die nächtlichen Fußgänger aus. Sie schienen zu ahnen, dass Furchtbares unter den Decken steckte. Als sie sich unbeobachtet wähnten, kippten sie das Skelett in einen der Schächte am Stephansdom.
Erleichtert atmeten sie auf. Dem Wunsch der Kaiserin Eleonora war Genüge getan.
***
Gegenwart:
Die Krankenschwester Maria Baumgart wohnte in der Lichtenfelsgasse, einer schmalen Querstraße direkt beim Rathaus. Zamorra und Nicole klingelten an der Eingangstür des hohen, sechsstöckigen Sandsteingebäudes. Die Schwester, bei der sie sich zuvor telefonisch angekündigt hatten, öffnete umgehend. Misstrauisch starrte
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