0870 - Tabitas Trauerhalle
lag die andere Welt. Sie wußte es. Sie wußte genau, daß dort jemand wohnte, daß er auf seine Art und Weise lebte, sich zurück in das Dunkel gezogen hatte und nur zu bestimmten Zeiten und Taten hervor kam.
Es war SEIN Platz. Bald würde ER erscheinen, denn Tabita hatte ihm Nachschub gebracht.
Sie sah ihn leider nicht, aber sie wußte, daß ER sie immer beobachtete und mit ihr zufrieden sein würde. Noch einen Schritt trat sie auf den Vorhang zu, verneigte sich vor ihm und sprach, während sie sich aufrichtete. »Ich werde es dir geben. Du wirst mein Opfer bekommen. Du wirst es für dich nehmen können, und es wird dich so wunderbar stark machen, das verspreche ich.«
Tabita erhielt keine Antwort. Sie wußte aber, daß ER sie gehört und verstanden hatte.
Sie drehte sich um.
Mit steif anmutenden Schritten ging sie auf die Bank zu, wo die tote junge Frau lag. Noch immer pendelte der Schleier vor ihrem Gesicht, denn Tabita wußte genau, was sie dieser Atmosphäre aus Trauer und Grauen schuldig war.
Neben der Bank blieb sie für einen Moment stehen. Dann bückte sie sich und hob die Tote an.
Wieder sah es so leicht aus, und mit einer gewissen Leichtigkeit legte sie den starren Körper auch auf ihre Arme. Alles war bestens und wunderbar. ER würde zufrieden sein, und sie würde den Rest der Nacht ruhig verbringen können.
Mit der Toten auf den Armen bewegte sie sich auf den dünnen Vorhang zu, der die beiden Welten trennte. Sie geriet zwangsläufig sehr nahe an ihn heran und spürte plötzlich das andere, das von ihm ausging. Es war die klamme, mit Worten kaum erklärbare Kälte, die sich ausgebreitet hatte und ihr entgegenwehte wie ein kühler, mit Eiswasser gefüllter Schwamm. Trotzdem war die Kälte anders.
Für Tabita bestand sie aus zahlreichen Lebewesen, die sich zu diesem dichten und unsichtbaren Filz oder Nebel zusammengefunden hatten, und eben diese andere Atmosphäre zu bilden.
ER wartete.
Sie spürte IHN!
Aber sie wollte ihm das neue Opfer nicht einfach so überreichen. Sie wollte, daß er wußte, um was es ging, denn auch ihre Handlungen und Taten mußten in ein rechtes Licht gerückt werden.
Stille umgab sie. Hinter ihr leuchteten die zahlreichen Flammen und verliehen ihr etwas Unheimliches.
»Ich habe es wieder geschafft«, sagte sie. »Ich habe für dich jemand geholt. Du wirst die neue Leiche bekommen, und sie wird dich stärken. Ich werde anschließend spüren, daß du wieder mächtiger geworden bist und du dann auch bereits sein wirst, deine Macht und deine Kraft auf mich zu verteilen. Ich liebe dich, denn ich weiß, daß du mich auch liebst. Und ich werde dir die neue Leiche als Zeichen meiner gewaltigen Liebe wieder einmal überreichen…«
Ihre Worte versickerten. Die eingetretene Stille blieb einige Sekunden liegen wie ein Klotz. Erst als sich Tabita bewegte, entstand ein Geräusch, das leise Rascheln ihrer Kleidung.
Sie drückte die Arme vor.
Da war der Vorhang. Sie berührte ihn. Sie spürte diesen Kontakt, als wäre dünnes Eis über ihre Hände gestrichen, und sie wußte, daß dies der Eingang zur Welt der Toten war, den sie noch nicht betreten durfte. Aber ihre Zeit würde noch kommen, das stand fest.
»Nimm sie. Nimm sie bitte. Es ist ein weiterer Baustein zu meinem und zu unserem Weg…«
Ihre Arme sackten nach unten. Die starre Tote geriet ins Rollen und Rutschen. Sie glitt über die Handflächen hinweg, drückte die Spitzen noch nach unten, dann fiel der starre Körper dem Boden zu und hätte hart aufschlagen müssen.
Er landete, aber er landete weich…
Es war kaum ein Geräusch dabei zu hören, und Tabita wußte, was sie zu tun hatte.
Sie trat von dieser Grenze zurück, denn das war nicht ihre Welt, noch nicht…
Rückwärts ging sie, den Blick nach vorn gerichtet, denn sie wollte trotz allem sehen, was sich hinter dem Vorhang abspielte, und zum wiederholten Male stellte sie sich die Frage, ob die Welt Jenseits des Vorhangs tatsächlich schon das Jenseits war.
Es konnte sein, es brauchte aber nicht zu sein. Irgendwann würde sie es herausfinden.
Der Körper lag starr.
Sekunden vergingen.
Plötzlich aber geschah es, und es fing weit hinter dem Vorhang an, denn dort bewegte ER sich…
***
Was war ER? Wer war ER?
Zwei Fragen, die Tabita auf der Seele brannten, ohne daß sie eine Antwort kannte. Sie wußte nur, daß ER unmittelbar mit ihr zu tun hatte, daß es zwischen ihnen beiden eine wahnsinnig starke Affinität gab, daß ER sie war und sie ER.
Eine
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