0884 - Mondwölfe
überwunden, aber er litt noch an den Nachwirkungen, denn er bewegte sich ziemlich langsam auf unseren Tisch zu. Wir hatten uns von den Stühlen erhoben, drückten Chapman die Hand, dessen Lächeln sich vertiefte, bevor er zwischen uns an der Schmalseite seinen Platz einnahm.
Wir hatten ihn als einen sehr agilen Menschen in Erinnerung. Den Eindruck machte er uns jetzt nicht. Er war fahl geworden, das Gesicht noch spitzer, der Mund schien sich ebenfalls verkleinert zu haben, und in seinen Augen leuchtete nicht mehr die alte Energie. Die Haare waren am Hinterkopf gekürzt worden, vorn wuchsen sie sowieso nicht mehr.
»Fragen Sie mich bitte nicht, wie es mir geht«, sagte er.
»So schlecht?«
»Nein, Mr. Sinclair, ich darf eigentlich nicht klagen. Ich habe die Operation gut überstanden, ich habe mich auch wieder phantastisch erholt, wie mir meine Kollegen bestätigten, aber es ist im Prinzip zuwenig für mich. Ich bin nicht mehr so agil wie sonst, zudem vermisse ich meine Arbeit. Zwar habe ich mich selbst gesund schreiben lassen, aber Sie wissen ja, wie das ist. Operieren kann ich noch nicht. Das wird dauern. So schleiche ich durch das Krankenhaus und weiß nicht, zu welcher Seite ich mich zählen soll. Zu den Patienten oder zu meinen Kollegen.«
»Wie wäre es denn mit einer Kur?« schlug ich ihm vor.
Professor Chapman nickte. »Die haben mir meine Kollegen ebenfalls vorgeschlagen. Und ich werde auch fahren. In vier Tagen ist es soweit. Da habe ich die Koffer gepackt.«
»Dann drücken wir Ihnen die Daumen, daß alles klappt.«
»Danke, Mr. Sinclair, aber deshalb sind Sie wohl nicht zu mir gekommen, sage ich mal.«
»Nein. Es geht…«
Er winkte ab. »Ich weiß schon. Ihr Chef hat mich informiert, und ich habe bereits meine Pflicht getan.«
Wir staunten. »Sie haben die Namen schon?«
Er lächelte wieder. »Irgendwo muß sich ja einer wie ich nützlich machen.«
»Da haben Sie uns einen sehr großen Gefallen erwiesen«, sagte Suko.
»Möglich.« Capman griff in die rechte Kitteltasche. »Mich hat nur gewundert, daß Sie auf mich zurückgreifen mußten. Es war ein Fall…«
Ich hob eine Hand. »Unser Fehler. Wir hielten die Sache damals für abgeschlossen, denn die ungewöhnlichen Verletzungen sind geheilt.«
»Und jetzt?«
»Tauchten sie anders wieder auf.«
Ben Chapman schwieg. Die Frage lasen wir in seinen Augen ab, und ich berichtete ihm, was geschehen war. An der Reaktion des Professors erkannte ich, wie sehr ihn mein Bericht erschütterte.
Nach einer nachdenklichen Pause murmelte er: »Dann fängt dieser schreckliche Fall wieder von vorn an, denke ich.«
»Das glauben wir auch. Nur diesmal ohne eine gewisse Melanie Morton.«
»Dafür mit dieser Wölfin im Lichtkreis?«
»Damit rechnen wir.«
Chapman schüttelte den Kopf. »Ich habe mich ja vorhin über mein Schicksal beschwert, aber ich will Ihnen gegenüber ehrlich sein und gestehen, daß ich in Ihrer Haut nicht stecken möchte. Für Sie beginnt alles von vorn, und wahrscheinlich wird es noch schlimmer werden, denn als es begann, hatten Sie die Verletzten zusammen. Und jetzt…?« Er ließ seine Worte mit dieser Frage ausklingen.
»Sieht es nicht gut aus«, gab Suko zu. »Wir müssen wieder von vorn beginnen, eben mit diesen Namen.«
»Und Adressen«, sagte der Professor. Er legte die Liste auf den Tisch und glättete den Knick. Die Namen und Anschriften waren fein säuberlich ausgedruckt worden, wobei wir Bill Jackson streichen konnten. Fünf blieben noch übrig.
Suko und ich warfen nur kurze Blicke auf die Liste. Ich steckte sie ein, und der Professor schaute auf seine Uhr. »Ich persönlich hätte mich gern noch mit Ihnen unterhalten, aber ich denke, daß Sie sich beide auf den Weg machen wollen.«
»So ist es.«
»Dann komme ich noch bis zum Ausgang mit.«
Wir gingen langsam und nahmen den Professor in die Mitte, der es noch immer nicht fassen konnte, daß der Fall wieder von vorn begann. »Fünf Bestien in London und Umgebung. Müssen Sie tatsächlich mit dem Schlimmsten rechnen?«
Wir nickten beide.
»Und das macht Ihnen nichts aus?«
»Doch, aber wir sind es gewohnt«, sagte Suko. Er reichte Ben Chapman als erster die Hand, wünschte ihm alles Gute und eine erholsame Kur.
»Das hoffe ich auch.«
Bald war der Tag vorbei, die Dämmerung würde sich heranschleichen, und wir beide wußten, daß wir so leicht keinen Feierabend bekommen würden. Der Professor winkte uns zu, als wir abfuhren.
Ich sah seine Gestalt noch im
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