0895 - Schattenkiller
fähig war, denn er veränderte die Ratten.
Plötzlich waren sie nicht mehr Freunde, sondern Feinde. Sie sprangen aufeinander zu. Sie schrieen dabei, sie quiekten, sie hatten ihre Mäuler weit aufgerissen, und sie hackten sich gegenseitig die Zähne ins Fell und Fleisch.
Auf Lucilles Schulter waren sie friedlich gewesen, der Schatten aber hatte sie zu kleinen Bestien gemacht. Da war etwas Böses in die Tiere eingedrungen, und jede Ratte versuchte mit aller Macht, die andere zu töten. Sie wälzten sich ineinander verkeilt über den Boden, der durch das Blut feucht geworden war. Sie konnten sich nicht mehr lösen, sie hatten sich gegenseitig verbissen. Ihre Zähne waren wie Reißer, die immer mehr Stücke hervorholten.
Es gab keine Chance, für keine der Ratten. Es war einfach furchtbar, und Lucille hatte den Kopf zur Seite gedreht, weil sie einfach nicht mehr zuschauen konnte. Sie weinte. Ihre Augen brannten, aber sie wunderte sich darüber, daß sie in der Lage war, noch einen klaren Gedanken zu fassen, denn sie dachte daran, was wohl geschehen würde, wenn dieser schreckliche Schattenkiller in sie hineinkroch und seine gesamte Kraft abgab.
Die Frau schauderte. Es war einfach zu schlimm. Sie konnte und wollte daran nicht denken.
Auf einmal war es um sie herum still. Kein Kratzen, kein schrilles Schreien oder Fiepen mehr, die Ruhe drückte sie nieder, und für einen Moment überkam sie das Gefühl, so schrecklich allein und verlassen zu sein. Sie konnte an nichts mehr denken, starrte nach vorn, hinein ins Leere, dann senkte sie den Blick, um vor ihre Füße zu schauen.
Dort lagen die Ratten.
Nein, nicht sie.
Es waren die Reste, die von beiden Tieren zurückgeblieben waren. Sie lebten nicht mehr, sie hatten sich gegenseitig getötet und bildeten einen feuchten Klumpen. Die Frau wollte einfach nicht mehr hinsehen.
Eine Bewegung lenkte sie ab.
Es war der Schatten, der über die toten Rattenkörper hinwegstrich und sich einer Wand näherte, an der er in die Höhe kroch. Es entstand kein Geräusch dabei, und die Frau schaute aus starren Augen zu, wie sich der Schatten auch weiterhin bewegte, wie er lautlos kroch, wie er an der Wand entlangwanderte, wobei sie sich fragte, ob es noch der gleiche war wie der in ihren Träumen, denn sie vermißte die roten, glühenden Augen.
Jedoch nicht lange, denn plötzlich waren sie wieder da. Sie erschienen aus dem Nichts, als hätten sie sich in der Wand verborgen gehalten, und auf einmal glühten sie wieder in der Dunkelheit.
Die Augen starrten Lucille an.
Drohend und wissend zugleich.
Kalt, gefährlich, ohne sich zu bewegen. Sie malten sich an der gegenüberliegenden Wand ab, aber sie bewegten sich plötzlich, wanderten von der Wand weg, huschten über den Boden und erreichten ungefähr eine Körperlänge von ihr entfernt die Wand, an der sie gefesselt war.
Für einen Moment stand er still. Dann huschte er langsam weiter und kroch über das rauhe Gestein.
Hoch und höher…
Er drehte sich nach rechts.
Es war genau die Richtung, wo sein nächstes Opfer wartete.
Lucille wußte nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nichts tun, sie war nicht mehr dazu in der Lage.
Sie hielt den Mund weit offen. Schreien, nur schreien und…
Dann war der Schatten da.
Er erwischte sie wie ein kalter Nebelstreif, als er über ihr Gesicht glitt, und einen Moment später in ihr verschwunden war. Die Kälte wechselte, ihr wurde warm, dann heiß, und plötzlich nahmen ihre Augen tief in den Pupillenschächten eine andere Farbe an.
Sie glühten in einem gefährlichen Rot…
***
Marco Anderre lag am Boden. Er hatte sich auf beide Ellenbogen gestützt. In seinen Augen lag das blanke Entsetzen, als er die weit aufgerissene Schnauze des Kampfhundes fixierte, der auf ihn zurannte, wobei die Pfoten über den glatten Boden glitten und er nicht so vorankam, wie er es sich vorgestellt hatte. Er rutschte mehrmals aus.
Ich war das Ziel des zweiten Hundes. Er hatte den längeren Weg, da er zuvor um den Schreibtisch herumwieseln mußte. Hinter ihm hockte die namenlose Frau unbeweglich wie eine Statue. Aus kalten Augen schaute sie unbeteiligt zu.
Für mich war zunächst der Hund wichtig, der Marco angriff, denn der junge Mann befand sich in höchster Gefahr. Ich hatte meine Beretta längst gezogen, und das Ziel war auch gut zu treffen, da sich das Tier auf dem direkten Weg voranbewegte und nicht nach links oder rechts abdriftete. Ich schwenkte die Waffe und feuerte.
Zwei Kugeln hieben in die
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