0897 - Monster-Maar
spießig.
Fasziniert und gleichzeitig angewidert trat Astrid näher. Die junge Frau hatte nie viel auf bildende Kunst gehalten. Dennoch erinnerte sie dieses Kitsch-Verbrechen in Öl an die furchtbaren Stillleben und Szenen eingefangener Waldromantik, wie sie nahezu obligatorisch in unzähligen Wohnzimmern unzähliger Rentner hingen. Einzig Größe und Motiv unterschieden dieses Bild von seinen nicht minder uninspirierten Geschwistern im Geiste.
Das, und die seltsame Konstruktion in seiner Mitte.
Wie es schien, war Astrid nicht die einzige, die auf diese Art Malerei allergisch reagierte: Irgendjemand hatte mitten in den Laacher See eine Nadel gesteckt, an welche ein straff gespannter Bindfaden befestigt war. Der Faden führte wiederum zum Turm des Klosters, genauer gesagt zu einem der dortigen Fenster, und war mit Tesafilm an der Leinwand fixiert. Betrachtete man diese Konstruktion von der Seite, sah sie beinahe wie ein Dreieck aus.
Dreieck , dachte Astrid. Moment mal.
So etwas hatte sie doch eben schon einmal gesehen… Suchend glitt ihr Blick über die Zeichnungen, Fotos und Texte, die an den Wänden des Zimmers aufgehangen waren. Nach und nach schritt sie sie ab und nahm die Blätter in Augenschein. Und tatsächlich: Einige Meter weiter rechts fand sie eine Bleistiftskizze mit ähnlichem Inhalt. Sie zeigte den Turm des Klosters und den darunter liegenden See als Schenkel eines mathematischen Dreiecks, bei dem eine weitere, dritte Linie vom Turmfenster zu einer mit einem X gekennzeichneten Stelle auf der Wasseroberfläche führte. Turm, Wasser und Linie waren mit griechischen Buchstaben versehen: Alpha, Beta, Gamma. Daneben standen mehrere Berechnungen und Formeln.
»Wie eine Textaufgabe aus einem Schulbuch«, murmelte Astrid.
Sie beugte sich vor und versuchte, der Logik des unbekannten Mathematikers zu folgen, so gut es ihre bestenfalls noch rudimentären Erinnerungen an dieses Fach erlaubten. Nach einigen Minuten gab sie frustriert auf. Wer immer die Skizze angefertigt hatte, schien eine Art Einfallswinkel berechnet zu haben - mehr konnte sie beim besten Willen nicht bestimmen.
»Aber was sollten die Mönche mit dem See zu schaffen haben?«, sagte sie leise. »Wollten sie etwas hineinwerfen? Vom Klosterturm aus?«
***
Ratlos sah sich Astrid weitere der Papierbögen an. Sie ergaben auch nicht mehr Sinn. Im Gegenteil: Es schien ihr, als würde alle paar Meter ein neues Thema, ein völlig neuer Gedankengang angegangen. Hier stand beispielsweise etwas über den Garten Eden, ein Bibelzitat, wie es im Kontext eines Klosters sicherlich nicht ganz unpassend war. Das Blatt rechts daneben enthielt einen langen und wissenschaftlichen Aufsatz über einen so genannten Thule-Orden und seine Bedeutung für die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.
Sie fand einen Stapel eng beschriebener Bögen, die offenbar aus einem längeren Text stammten. »Es existiert irgendwo auf dieser weiten Welt ein altes Buch«, las Astrid. »So alt, dass unsere modernen Antiquare unendlich lang über seinen Seiten brüten dürften, ohne sich darauf einigen zu können, aus welchem Material sie bestehen. Es ist die einzige noch existierende Ausgabe. Das älteste hebräische Dokument zum okkulten Wissen, die Siphra Dzeniouta, entstand nach seinen Inhalten, und schon damals galt es selbst als Legende. Eine der Illustrationen dieses Buches zeigt die Göttliche Essenz, die von ADAM ausströmt. Wie ein leuchtender Bogen strömt sie aus, als bilde sie einen Kreis, und dann, nachdem sie den höchsten Punkt ihrer Reise erreicht hat, beugt sich die unbeschreibliche Herrlichkeit erneut nieder und kehrt zur Erde zurück, in ihrem Gefolge nun eine weiter entwickelte Form der Menschheit. Doch je näher der Strahl unserem Planeten kommt, desto mehr verdunkelt sich sein Licht, bis er beim Berühren des Erdbodens so schwarz geworden ist, wie die Nacht selbst.«
Hier endete der Text des ersten Blattes, und als Astrid es umdrehte, fand sie keine Fortsetzung, wohl aber etwas, das wie eine Quellenangabe aussah. In sorgfältiger, ruhiger Hand hatte jemand »H. Blavatsky« darauf notiert. »Isis entschleiert«, las die junge Frau leise. »Ein Meisterschlüssel zu den alten und modernen Mysterien, Wissenschaft und Theologie.«
Blavatsky… Irgendetwas klingelte bei diesem Namen in ihr. Hatte sie nicht mal von einer russischen Okkultistin gelesen, die so hieß? Und hatte diese nicht irgendeine Bewegung gegründet, oder so?
Nein, keine Bewegung, berichtigte sie
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