09 - Vor dem Tod sind alle gleich
Strafe nicht einverstanden, weil sie nicht mit den Gesetzen der Fénechus übereinstimmte. Aber würde ein Mann sich wirklich gegen seinen König und die höchsten Autoritäten im Lande auflehnen und ihnen zum Trotz sogar einen Ausländer aus der Todeszelle befreien? Eadulf fühlte sich unsicher und mißtraute den Motiven des Fürsten.
Wie als Antwort auf seine Überlegungen gab es ein Geräusch vor seiner Tür, und sie wurde geöffnet. Eadulf warf das Handtuch auf das Bett und sah sich einem kleinen, drahtigen Mann mit spitzem Gesicht gegenüber, den er noch nie zuvor erblickt hatte.
»Ich hab gehört, du verstehst unsere Sprache, Angelsachse«, sagte der Mann knapp.
»Ich kenne sie«, gab Eadulf zu.
»Das ist gut.« Der Mann hielt es offensichtlich mit der Kürze. »Du kannst gehen.«
Eadulf stutzte und wußte nicht, ob er ihn richtig verstanden hatte. »Gehen?«
»Ich soll dir sagen, daß du frei bist und die Burg verlassen kannst. Wenn du zum Fluß hinuntergehst, findest du dort eine Nonne aus Cashel, die auf dich wartet.«
Eadulfs Herz schlug schneller, und seine Miene hellte sich auf. »Fidelma? Schwester Fidelma?«
»So heißt sie, hat man mir gesagt.«
Eadulf fühlte sich von einer Woge der Erleichterung und Freude erfaßt. »Dann hat sie meinen Freispruch erwirkt? Sie hat die Berufung gewonnen?«
Die Miene des Mannes mit dem spitzen Gesicht blieb unbewegt. Seine tiefliegenden Augen verrieten nichts.
»Ich habe nur den Auftrag, dir mitzuteilen, was ich dir schon gesagt habe. Mehr weiß ich nicht.«
»Dann, mein Freund, verlasse ich dich mit meinen Segenswünschen. Aber was ist mit dem Fürsten? Wie kann ich ihm für die Freundlichkeit danken, daß er mich hergebracht hat?«
»Der Fürst ist nicht hier. Es ist nicht nötig, ihm zu danken. Geh schnell und still. Deine Freundin wartet.«
Der Ton des Mannes blieb ausdruckslos. Er trat zur Seite und machte keine Miene, Eadulfs ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Eadulf zuckte die Achseln und sah sich in dem Zimmer um. Er hatte nichts mitzunehmen. Alle seine Habseligkeiten befanden sich in der Abtei.
»Dann sag deinem Fürsten, daß ich ihm großen Dank schulde und dafür sorgen werde, ihn abzutragen.«
»Wie du meinst«, erwiderte der Mann mit dem Fuchsgesicht.
Eadulf verließ das Zimmer, und der Mann folgte ihm nach draußen. Die Burg lag anscheinend verlassen im kühlen weißen Licht der herbstlichen Morgendämmerung. Der Tau machte den Boden schlüpfrig und das Gehen in den Ledersandalen schwierig. Der Atem stand wie Rauch in der Luft, und er merkte, wie kalt es schon war.
»Kann mir jemand einen Mantel borgen?« fragte er freundlich. »Es ist kalt, und mein Mantel wurde in der Abtei beschlagnahmt.«
Sein Begleiter schien ungeduldig.
»Deine Gefährtin hat Kleidung für die Reise. Zögere nicht. Sie verliert sonst die Geduld.«
Sie hatten das Tor der Burg erreicht. Dort stand ein zweiter Mann auf Wache. Er schob die hölzernen Riegel zurück und stieß die Torflügel auf.
»Kann ich nicht irgend jemandem dafür danken, daß man mir hier Zuflucht gewährte?« Eadulf empfand es als ungehörig, die Burg auf diese Weise zu verlassen.
Sein Begleiter schien zu einer scharfen Erwiderung anzusetzen, doch dann zuckte ein eigenartiges Lächeln über sein leichenhaftes Gesicht.
»Du wirst ihm bald dafür danken können, Angelsachse.«
Das Tor war nun offen.
»Deine Freundin erwartet dich unten am Fluß«, wiederholte der Mann. »Du kannst jetzt gehen.«
Eadulf hielt ihn für einen ungehobelten Kerl, lächelte ihm aber dankbar zu und eilte durch das Tor hinaus. Vor ihm senkte sich der Weg von dem kleinen Hügel, auf dem die Burg stand, in Windungen hinab zu einem Wäldchen, durch das man das graue Band des Flusses in wenigen hundert Metern Entfernung schimmern sah.
Er blieb stehen und blickte zurück zu dem Mann am Tor.
»Geradeaus hinunter? Wartet Schwester Fidelma dort unten?«
»Da unten am Fluß«, gab der Mann zurück.
Eadulf schlug den mit Reif bedeckten Weg ein. Er war glatt, aber die Mitte des Weges war von den Hufen der Pferde in einen Morast verwandelt worden. Deshalb lief er an der schrägen Seite des Weges und wurde dadurch schneller, als er wollte. Gleich darauf trat das Unvermeidliche ein. Er glitt aus und fiel hin.
Das rettete ihm das Leben.
Als ihm die Beine wegrutschten und er hintenüberschlug, sausten zwei Pfeile an ihm vorbei. Einer bohrte sich mit hartem Laut in einen nahen Baum.
Einen Augenblick starrte Eadulf
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