090 - Die Totenwache
Ihren Besitz, Dorian!" stieß Gunnarson hervor. Seine blauen Augen flammten wie ein Elmsfeuer. „Sie waren sich über die Folgen gar nicht im klaren!" „Welche Folgen, Gunnarson?"
„Sind Sie wirklich so blind, Hunter, oder wollen Sie sich über mich lustig machen?"
Gunnarson griff nach dem Handspiegel, doch ich zog meine Hand blitzschnell zurück.
„Sie haben sich wie ein gemeiner Dieb in meine Villa geschlichen", sagte ich zornig. „Sie wollten den Spiegel stehlen. Geben Sie es endlich zu, Gunnarson."
Der Isländer sah mich sehr ernst an. Ich hatte das Gefühl, daß er mich zutiefst bedauerte.
„Ich kann ihre Verwirrung verstehen, Hunter. Aber ich mußte sofort handeln. Unter normalen Umständen hätte ich Ihre Ankunft selbstverständlich abgewartet."
„Um was geht es?"
„Wenn Sie mich so direkt fragen, Hunter. Ich bin der Meinung, daß die merkwürdigen Erscheinungen mit dem Spiegel zusammenhängen. Ich kam in die Jugendstilvilla, um den Spiegel näher zu untersuchen."
Ich hob den Spiegel und warf einen Blick darauf. Obwohl mich der helle Glanz blendete, wandte ich mich nicht ab. Fasziniert starrte ich in das Funkeln und Gleißen. Irgend etwas veränderte sich, und ich konnte mich dem Reiz nicht entziehen.
Plötzlich hörte ich fremde Stimmen. Die anderen schienen nichts davon bemerkt zu haben. Sie warteten auf meine Erwiderung. Doch ich sagte nichts. Je länger ich auf den Spiegel blickte, desto mehr entfernte ich mich aus der Realität. Das Gesicht einer wunderschönen Frau erschien auf der Spiegelfläche. Ihre Augen lebten auf geheimnisvolle Weise. Ihr Blick versenkte sich in mein Innerstes, und ich trieb auf einer samtenen Wolke davon…
Ich kannte diese Frau aus Ungas Traum vom Untergang der mysteriösen Megalith-Stadt. Das Gesicht wich zurück. Schließlich konnte ich den ganzen Körper der unbekannten Schönen betrachten. Sie lag ausgestreckt auf einem steinernen Sarkophag. Dicht neben ihr kauerte der Skelettkrieger. „Ich bin sehr einsam, Dorian", sagte die wohltönende Stimme der schlafenden Frau.
„Was kann ich für dich tun, Ys-Dahut?"
Ich kannte ihren Namen, und ich redete in der unbekannten Sprache, die Miß Pickford ebenfalls beherrscht hatte, als sie den Spiegel gehalten hatte.
„Die Ewigkeit ist grenzenlos. Ich kenne keinen Tod, Dorian. Das mag in deinen Augen wunderbar und erstrebenswert sein, doch ich leide darunter. Zeit und Raum stellen für mich keine Grenzen dar. Dennoch brauche ich die Gesellschaft eines Mannes. Willst du nicht zu mir kommen?"
Ich empfand ein angenehmes Prickeln, als ich die blonde Schönheit betrachtete. Sie war überaus begehrenswert.
„Wie kann ich dich erreichen, Ys-Dahut?"
Sie öffnete ihre vollen Lippen zu einem sinnlichen Lächeln.
„Ganz einfach, Dorian. Du brauchst nur meinem Ruf zu folgen. Du kannst mich nicht verfehlen." „Und was kann ich für dich tun?"
Mir kam die Frage kindisch und sinnlos vor. Was tut man schon bei einer schönen Frau?
„Ich habe viele Aufgaben für dich, Dorian", sagte sie lächelnd. „Mein Wächter ist schon lange tot. Er bewacht mich zuverlässig und treu. Doch er ist tot, und seine Gesellschaft bedeutet mir nichts mehr. Ich kann nicht mit ihm reden, denn seine Stimmbänder zerfielen vor Äonen zu Staub…"
„Aber wie kann er dich dann überhaupt noch bewachen, Ys-Dahut?"
„Er ist mit magischem Leben erfüllt, Dorian. Du mußt ihn besiegen. Dann kannst du seine Stelle einnehmen und mich durch die Ewigkeit begleiten."
Ihr Vorschlag hatte etwas Verlockendes an sich. Sie hatte meine Begierde geweckt. Dennoch hatte ich Bedenken. Wie sollte ich ein mit magischem Leben erfülltes Skelett besiegen?
Ys-Dahut schien meine Gedanken lesen zu können. Sie sagte leichthin: „Ich helfe dir dabei, Dorian. Ich will, daß du zu mir kommst. Du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst den Skelettwächter besiegen."
„Aber - wie kann ich dich retten, Ys-Dahut? Wie kann ich dich in meine Welt holen?"
Die Blonde schloß die Augen. Meine Frage schien sie zu irritieren. Ihr Gesicht wurde ernst.
„Du mußt Luguri mitbringen! Hörst du, Dorian! Du mußt Luguri mitbringen. Nur er weiß, wie man mich retten kann…"
Plötzlich zerriß die Vision vor meinen Augen. Ich spürte einen Schlag gegen meinen Arm. Ich wollte mich wehren, doch mein Bewußtsein konnte die vielfältigen Eindrücke nicht verarbeiten. Ich kam mir gespalten vor. Obwohl ich mich noch in der unbegreiflichen Sphäre der schönen Blonden wähnte, nahm ich
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