0913 - Das Gespenst
zu werden. Seine Reaktion wäre nicht nötig gewesen, denn der Reiter zog die Zügel etwas an und stoppte sein Tier. Dabei saß er im Sattel wie eine Statue, den Körper ebenso starr wie die Augen, aber die Blicke waren auf Sven Hansen gerichtet, als wollten sie jede Einzelheit an seinem Körper und in seinem Gesicht genau verfolgen.
Nichts tat sich, gar nichts. Die Welt in der näheren Umgebung der Ruine wirkte wie erstarrt, und Hansen, der wirklich nicht auf den Mund gefallen war, suchte nach Worten, um den seltsamen Reiter ansprechen zu können. Ihm schossen nur leere Worthülsen durch den Kopf, mit denen er sich wohl lächerlich gemacht hätte, aber er mußte einfach etwas sagen, denn er hielt die gespannte Stille nicht aus.
»Wer bist du?« brachte er schließlich wenig originell hervor. »Wer? Und wo kommst du her?«
»Ich bin ein Suchender.«
Hansen hatte eine Antwort erwartet oder erhofft. Daß sie ihm tatsächlich gegeben worden war, erschreckte ihn schon, und der Reiter hatte auch nicht mit einer normalen Stimme gesprochen, denn so hallend redete kein Mensch.
Sven Hansen hatte verstanden, aber nicht begriffen. Er hob die Schultern, um dies deutlich zu machen, und der Reiter wurde deutlicher. »Ich suche den Schuldigen. Er muß hier sein. Du bist hier. Ich habe dich gefunden. Du mußt der Schuldige sein.«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Aber du bist hier.«
»Ja, ja. Es ist ein Zufall. Ich, ich wollte hier übernachten. Ich wollte nur Schutz suchen.«
»In meiner Kirche?«
»Wieso ist das deine?«
»Das mußt du wissen, du…« Er sprach nicht mehr weiter, denn plötzlich baute sich hinter ihm und absolut lautlos ein gewaltiger Schatten auf. Es war ein riesiges Gespenst und sah aus wie ein übergroßer Mönch, der an Stelle des Gesichts nur einen schwarzen Fleck hatte.
Der Reiter hatte in ihm die Neugierde erweckt. Der Schatten jedoch machte ihm Angst. Er war einfach zu bedrohlich und gefährlich. Dieser Eindruck nahm noch zu, als der Schatten seinen linken Arm anhob und ausstreckte.
Es war eine bestimmte Geste. Er wollte damit den Schutz andeuten, den er dem Reiter gewährte. Er war sein Beschützer, möglicherweise sogar so etwas wie ein zweites Ich, aber Hansen kannte sich darin nicht aus. Er wollte nicht darüber nachdenken, er wollte eigentlich nur weg, denn dieser Ort war ihm längst unheimlich geworden.
Er schaffte es nicht.
Beide Gestalten wirkten auf ihn wie Leim, die ihn auf einer Stelle festhielten.
»Ich habe dich gefunden, und du wirst büßen für das, was damals geschehen ist.«
Wieder dröhnte ihm die Stimme entgegen, und wieder spürte der Wanderer die Kälte, die sich langsam in seinem Körper ausbreitete und ihn quälte.
Büßen! Büßen! Weshalb büßen? Was war denn damals geschehen? Was wollte der Reiter überhaupt?
Er tat nichts.
Dafür bewegte sich der Schatten nach vorn, und er bückte sich ebenso, wie es die Gestalt auf dem Pferd getan hatte. Nur tiefer, viel tiefer. Er hielt seinen linken Arm noch immer ausgestreckt. Die Hand kam Hansen vor wie eine gewaltige Klaue, die auf ihn fixiert war.
Die Hand faßte zu!
Nein, es hatte nur den Anschein gehabt. Sie griff zwar an, aber sie griff daneben. Er spürte ihre Kälte, als sie zu seinem Kopf hochwanderte. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen, aber er konnte schauen und bekam deshalb mit, wie sich die normale Welt um ihn herum zu verändern begann. Sie war zwar noch vorhanden, aber sie zog sich zusammen. Die Masse konzentrierte sich dabei auf einen Punkt. Sie zerrte alles zu sich heran.
Hansen kam nicht mehr zurecht. Sein ganzes Weltbild war aus den Fugen geraten. Er hatte das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen und durch eine große Lupe betrachtet zu werden.
Dann erwischte ihn der Wind.
Oder war es ein Sturm, eine andere Kraft?
Hansen konnte es nicht sagen. Die Stille um ihn herum verging, die Welt war noch geblieben, aber anders. Er hörte Schreie, er vernahm das Wiehern der Pferde und roch den beißenden Rauch. Er ahnte höchstens, daß er sich noch in seiner Welt befand, aber nicht mehr in seiner Zeit…
***
Sven Hansen wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er tat schließlich das, was viele Menschen getan hätten. Er machte sich klein, um kein provozierendes Ziel abzugeben.
Staub drang in seine Augen. Er kroch auf allen vieren auf einen vertrockneten staubigen Strauch zu, warf sich hinein und ignorierte die Dornen, die ihn verletzten, schlichtweg.
Um ihn herum tobte ein Kampf, eine
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