0913 - Das Gespenst
niemand zu sehen.
Kein Reiter, kein Schatten. Die Stille lag so dicht wie ein feingesponnenes Netz.
Trotzdem glaubte er nicht daran, sich geirrt zu haben. Da gab es etwas. Er spürte es genau. In seiner Nähe lauerte das Unheimliche wie ein Raubtier auf dem Sprung.
Sven Hansen drehte sich wieder. Auch im Innern der ehemaligen Kapelle hatte sich nichts verändert. Es war dunkel. Das Mondlicht verteilte sich in unterschiedlichen Graustufen.
Urplötzlich hörte er den Hufschlag erneut! Er klang jetzt, als würde der Reiter sein Pferd an der Leine führen.
Die Gänsehaut auf Hansens Rücken verwandelte sich in einen Schauer der Kälte. Er wußte jetzt, daß er sich nicht geirrt hatte, auf diesen Beweis hatte er gewartet, und er wußte weiter, daß es ihm nichts brachte, wenn er sich verkroch.
Er wollte sich dem Unbekannten stellen, auch wenn es für ihn gefährlich werden konnte.
Es war nicht einfach, durch die Löcher zu klettern, deshalb suchte er sich eine andere Lücke, um das Innere der alten Ruine zu verlassen. Jetzt stand er draußen, die Kapelle befand sich in seinem Rücken, vor ihm lag die Landschaft, und er hörte in seinem Rücken erneut den Hufschlag aufklingen.
Der Reiter kam näher und brauchte die Ruine nur einmal zu umrunden, um für Hansen sichtbar zu werden. Bei dem Gedanken hatte er bereits weiche Knie bekommen.
Kein Schnauben des Tieres, keine menschliche Stimme, nur der Hufschlag war zu hören, der hell wie ein Glockenklang durch die Stille der Nacht schwang.
Auf einmal sah er den Reiter, aber nur für einen Augenblick. Sven Hansen erstarrte in einer gewissen Ehrfurcht.
Ihm ging es wie vielen Menschen, die auf dem Boden stehen und denen ein auf einem Pferd sitzender Mensch entgegenkommt. Da sahen Mensch und Tier aus der Perspektive des Menschen immer größer aus, als sie es tatsächlich waren, aber das war es nicht, was den Zuschauer in diesem Moment so erschreckte.
Es ging ihm einzig und allein um den Reiter, denn der sah ungewöhnlich aus. Er paßte einfach nicht in die moderne Zeit. Selbst bei diesen Lichtverhältnissen war zu erkennen, daß der Reiter in eine Epoche gehörte, die Jahrhunderte zurücklag, und dem Beobachter schoß der Begriff Mittelalter durch den Kopf.
Mittelalter. Die Zeit der Ritter, der Knappen, der Burgfräuleins, der großen Helden, der mächtigen Kämpfer, als Ruhm und Ehre noch einen größeren Rang einnahmen und das Sterben auf dem Schlachtfeld noch als ehrenwert angesehen wurde.
Es war seltsam, aber Sven Hansen glaubte nicht daran, einen Reiter vor sich zu haben, der aus der Gegenwart stammte. Er glaubte nicht an einen Verkleideten, an so etwas wie einen Schauspieler, der seine Freilichtbühne verlassen hatte oder einfach nur so durch die Welt ritt. Es war einfach alles anders, es war so fremd, und es konnte durchaus daran liegen, daß dieser Reiter eine Aura abstrahlte, die auch auf den Beobachter überschwang.
Sven Hansen spürte etwas Geheimnisvolles, das er zuvor noch nie in seinem Leben bemerkt hatte.
Er konnte es sich nicht erklären, es war einfach da. Ein Hauch aus einer anderen Welt, der Gruß aus fremden, unheimlichen Reichen.
Er blieb stehen und wartete.
Die Zeit schien für ihn langsamer abzulaufen, und er bekam Muße genug, sich die Person auf dem Pferd anzuschauen. Sie hob sich zudem relativ deutlich von der Dunkelheit ab, als wären ihre Umrisse noch einmal von hellen Streifen nachgezogen worden, aber die Gestalt wie auch das Pferd waren keine gespenstischen Wesen. Sie hatten dreidimensionale Körper, und trotzdem strahlten sie die Aura einer gespenstischen Person deutlich ab.
Der Reiter saß nicht gerade vorbildlich auf dem Pferderücken, sondern vornübergebeugt. Er trug ein Kettenhemd und darüber einen Umhang. Das Pferd hielt den Kopf gesenkt, als suchte es auf dem Boden nach etwas Bestimmten. Es schnaufte nicht, es wieherte nicht, nur die Klänge des Hufschlags durchbrachen die Stille der Nacht. Das Alter des Reiters war für Hansen schlecht abzuschätzen.
Obwohl die Haare des Mannes grau oder beinahe weiß waren, schien der Reiter noch relativ jung zu sein. Er trug das Schwert an seiner rechten Seite und hatte die rechte Hand um den Griff gelegt, während er mit der linken die Zügel hielt.
Insgesamt wirkte er auf Sven nicht gefährlich, eher rätselhaft und unheimlich.
Er ritt auf den Wanderer zu, kam ihm sogar sehr nahe, und Sven ging sicherheitshalber zwei Schritte zurück. Er wollte nicht riskieren, plötzlich angesprungen
Weitere Kostenlose Bücher