0913 - Das Gespenst
kennengelernt, und dieses Wissen setzte er ein.
»Wo sind wir?« fragte er in mehreren Sprachen.
Der Mann krächzte und keuchte nur. »Wie heißt der Ort?«
Er erhielt eine Antwort, die er nicht verstand. Aber er sah auch die Angst in den Augen des Mannes, die irgendwie weiß leuchteten. Er hörte ihn wieder keuchen, stellte die Frage erneut und gab dem Knaben Gelegenheit, sich zu erholen.
Dann nuschelte der Vierschrötige etwas wie »Alben«, aber das reichte Hansen aus.
Er hatte Alet-les-Bains gemeint. Das mußte es sein. Es gab keine andere Möglichkeit. Die Gegend um Carcassonne und den Süden Frankreichs kannte er ziemlich gut. Es gab einen Ort mit diesem Namen auch in seiner Zeit. Wenn er jetzt eintreffen würde, dann nur um einige hundert Jahre früher.
Hansen war einigermaßen zufrieden.
Der Ochse lief von allein schneller. Wahrscheinlich hatte er Wasser und Futter gewittert, aber Sven wollte noch mehr wissen und er fragte, ob sich in Alet-les-Bains auch Soldaten aufhielten.
Der Vierschrötige gab ihm keine Antwort. Er hatte ihn wohl nicht verstanden.
»Soldaten?«
»Ja.«
»Auch in Alet-les-Bains?«
Der Leichenkutscher hob die Schultern.
»Sind sie da?«
»Ähm…«
»Ach, leck mich doch kreuzweise!« fluchte Hansen und drehte sich von ihm weg. Er wollte, wenn er den Ort erreichte, nicht unbedingt auf dem Bock sitzen, sondern sich zu Fuß einschleichen. Das war am besten.
Der Weg lief jetzt gerade. Die über ihn hinwegrasenden und kratzenden Räder wirbelten Staubwolken auf, die Hansen auf dem Bock sitzend kaum wahrgenommen hatte. Jetzt aber sprang er in den Staub hinein, torkelte noch auf den Straßengraben zu, konnte sich aber fangen und rutschte nicht aus.
Er drehte sich um.
Der Wagen war an ihm vorbeigerollt. Die Leichen schaukelten noch immer auf der Ladefläche. Sie sahen aus wie Puppen, die von der Dunkelheit verschluckt wurden.
Hansen war kein besonders gläubiger Mensch, jetzt aber schlug er ein Kreuzzeichen, als er der makabren Fracht nachschaute.
Das habe ich überstanden, dachte er, schüttelte den Kopf und wünschte sich einen dreifachen Schnaps, mit dem er den verfluchten Leichengeschmack aus dem Mund spülen konnte.
Das Rattern der Räder war verstummt. Vor ihm lag der Ort in einer nahezu bedrückenden Stille. Er hörte keine Stimmen, kein Geschrei, es schien alles tot zu sein, aber die Feuer leuchteten, und ihr Widerschein glitt auch über Häuser hinweg, die diesen Namen nicht verdienten, denn es waren mehr Hütten, die in diese Mulde hineingebaut worden waren, wobei sie von Hängen geschützt wurden.
Weiter vor sich glaubte er, dunklere Schatten zu sehen. Das konnten durchaus hohe Felsen sein, die sich in der Nacht abhoben.
Sven Hansen wollte nicht daran denken, was hinter ihm lag und auch nicht daran, was ihn noch erwarten konnte. Er würde es nehmen, wie es kam, etwas anderes blieb ohnehin nicht übrig.
Mit diesem Vorsatz machte er sich auf den Weg. Sehr bald schon sah er rechts und links des schmalen Pfades die ersten Bauten. Es waren primitive Hütten, oft nur mit lückenhaften Dächern versehen.
Er konnte nicht feststellen, ob sie zerstört worden waren oder ob man sie gar nicht erst weitergebaut hatte.
Die Feuer wiesen ihm den Weg, und der Mann aus der Zukunft sah sich sehr bald in den engen Gassen dieses kleinen Ortes. Es stank auch hier nach Leichen und menschlichen Ausdünstungen. Vor ihm hatten sich mehrere Frauen versammelt und fingen an zu jammern. Es waren regelrechte Klagelieder, die durch die Gasse wehten, und das Gejammer peinigte die Ohren des Zuhörers.
Er wünschte sich weit, weit weg. Zurück in seine Zeit. Und er hoffte darauf, daß der Reiter und sein Gespenst oder Schatten wieder erscheinen würden.
Sie aber ließen sich nicht blicken, und so ging er durch die Gasse, weil er sich dem Zentrum des Ortes nähern wollte, wo auch die Feuer brannten. Er hoffte, auch bald etwas zu trinken zu bekommen.
Man hatte drei Feuere angezündet, die zudem so zueinander standen, daß sie ein Dreieck bildeten.
In dessen Mitte stand der Leichenkarren. Hinter ihm knieten drei Frauen und jammerten ihren Schmerz hinaus. Um sie herum standen einige alte Männer, die sich mit Knüppeln bewaffnet hatten.
Es war lächerlich, mit ihnen gegen die Schwerter und Lanzen der Soldaten ankämpfen zu wollen.
Sven Hansen gelangte immer näher an das Ende der schmalen Gasse heran. Auf einer Mauer hockte eine Katze, die mit einem lauten Schrei vor ihm floh.
Dann hatte er
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