0918 - Auf der Schwelle der Zeit
erlebt, dass die Natur in Augenblicken magischer Angriffe plötzlich den Atem anhielt. Nichts davon konnte er hier beobachten. Vögel trällerten ihre Lieder, flogen weg, kamen an oder hüpften von Ast zu Ast. Ab und zu sah er Insekten durch die Gegend schwirren.
Alles war so, wie es sein sollte. Wenn man von diesem Phänomen um den Monolithen absah.
Zamorra bedauerte, dass er sein Amulett gerade nicht greifbar hatte. Auch wenn es zuletzt unberechenbar geworden war und er es deshalb Asmodis überlassen hatte, so war es über lange Jahre doch seine stärkste magische Waffe gewesen. Vielleicht hätte es ihm in dieser Situation weiterhelfen können und sei es nur, dass es das Wirken fremder Kräfte hätte feststellen oder ihn davor schützen können.
Er bückte sich und hob einen faustgroßen Stein auf.
»Mal sehen, ob wir dem Geheimnis auf die Spur kommen.«
Mit gespannter Aufmerksamkeit ging er auf die vermeintliche Luftspiegelung zu. Zwei Schritte davor blieb er stehen. Noch einmal warf er einen Blick zu Gryf und Rhett, die ihn aus einigen Metern Entfernung beobachteten. Dann schleuderte er den Stein in Richtung des Monolithen - und nichts geschah.
Zumindest nichts, mit dem man nicht hätte rechnen können. Der Stein durchdrang die Grenze des Flirrens und fiel kurz vor dem Nebel zu Boden.
»Beeindruckend!«, hörte er hinter sich.
Er drehte sich um und sah Gryf grinsen.
»Ja, nicht wahr? Pass auf, es wird noch besser!«
Der Professor hob die rechte Hand und näherte die Fingerspitzen dem Flimmern. Ganz langsam und vorsichtig. Millimeter für Millimeter. Jederzeit bereit, die Hand zurückzureißen, falls etwas passierte. Doch es passierte nichts. Weder wurde die Luft wärmer, noch wurde sie kälter. Auch von einem Luftzug war nichts zu spüren.
Etwa einen Zentimeter vor dem Flirren verharrte Zamorra. Sollte er es tatsächlich wagen?
Da gellte hinter ihm ein Schrei auf. »Zamorra, Achtung!«
Ohne die Hand zu senken, schielte er über die Schulter nach hinten. Er sah Rhett, der mit offenem Mund einen Punkt irgendwo über Zamorra fixierte. Als der Professor in die gleiche Richtung blickte, entdeckte er einen Vogel. Das Flimmern hatte ihn gepackt und schleuderte ihn wie in einem Karussell immer wieder im Kreis.
»Merde!«, entfuhr es Zamorra.
Sofort zog er die Hand zurück.
Zu spät!
Eine unsichtbare Kraft umschlang seine Finger, dann seinen Arm. Zamorra versuchte sich zu wehren, wollte sich irgendwo abstützen. Aber da war nichts! Nur Luft - und die war sein Gegner. Er stemmte sich mit den Fersen in den Boden, versuchte mit dem linken Arm den rechten dem Sog zu entreißen. Ohne Erfolg.
Von irgendwoher erklang eine Stimme, die ihm sehr bekannt vorkam. War es seine eigene?
Mach dich auf etwas gefasst! Das wird wehtun!
Sein Widerstand erlahmte. Aus dem Augenwinkel sah er zwar noch, wie Gryf und Rhett auf ihn zurannten, doch sie schafften es nicht mehr. Kurz bevor sie den Professor an den Beinen hätten packen können, wurde der endgültig erfasst.
Das Flirren riss an ihm, zerrte ihn in weitem Umkreis um den Monolithen. Wieder und wieder und wieder. Und immer schneller. Der Strudel schleifte ihn über den Boden. Er merkte, wie sein weißer Anzug der Belastung nicht länger standhielt und zerriss. Nach wenigen Runden dieser mörderischen Karussellfahrt hing er ihm in dreckigen Fetzen am Leib. Immer wieder schlug er selbst auf dem Boden auf. Die Haut wurde abgeschürft und wenige Augenblicke später schoss Blut in die Wunden.
Wieder raste er an Gryf und Rhett vorbei, die ihm mit Entsetzen hinterher schauten.
Und noch immer nahm die Geschwindigkeit zu. Bald konnte Zamorra nichts mehr von seiner Umwelt erkennen. Zu schnell jagte sie an ihm vorbei und verschwamm zu einem einzigen Brei.
»Stopp!«
Zamorra glaubte nicht wirklich, dass sein Plärren etwas brachte, aber seine Panik verschaffte sich auf diese Art Luft.
»Aufhören! Sofort aufhören!«
Er schrammte über einen messerscharfen Stein. Oder war es vielleicht nur ein lächerlicher Zweig, der wegen Zamorras Geschwindigkeit hart und scharf wie ein Stein wirkte? Egal, am Ergebnis änderte es nichts: Eine breite Strieme platzte in Zamorras Haaransatz auf und nach wenigen Momenten rann dem Professor Blut über die Stirn, über die Brauen und in die Augen.
Noch einmal öffnete er den Mund zu einem letzten Schrei.
»Was zum Teufel gesch…«
Dann riss ihn der Sog aus dieser Welt.
***
Vor achtzehn Monaten
Weißes Rauschen.
Heiß, so furchtbar
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