092 - Der Herr des Schreckens
weiter auf ihn zu. Arvois wich zurück, bis er mit dem Rücken an die Mauer des nächsten Hauses stieß. Die furchtbare Erscheinung wollte ihn packen.
Doch da war es, als erfülle ein leises Raunen und Schwirren die Luft. Ein grünlicher Nebel quoll aus Mund, Nasen- und Ohrenlöchern des Leichnams und verwehte. Der Leichnam brach zusammen, blieb verkrümmt liegen und rührte sich nicht mehr.
Mit schlotternden Knien an der Hauswand stehend, den Wagenheber in der Hand, sah Robert auf ihn nieder.
Auf dem Fahrersitz des Autos lag ein Zettel, darauf stand: ‚Professor Dulac soll dem Ruf nach Tibet folgen, sonst wird er den Herrn des Schreckens fürchten lernen. Dies ist die allerletzte Warnung’. Robert Arvois legte den Zettel ins Handschuhfach. Er blieb bei dem Leichnam zurück, der jetzt nur noch eine verwesende, stinkende, leblose Masse war, und schickte Nicole zur nächsten Telefonzelle, um die Polizei und die elterliche Wohnung anzurufen.
Nicole wählte zunächst die Nummer der Wohnung der Dulacs. Ein gähnender Polizist meldete sich. Nicole sprudelte hervor, was passiert war. Der Polizist wußte von dem Golem, jenem monströsen Wesen, das seinen Kollegen am Mittag getötet hatte und selbst umgekommen war. Ihm war gesagt worden, daß er mit unheimlichen Ereignissen rechnen solle, und deshalb begegnete er Nicoles Erzählung von einem wandelnden Leichnam mit nur geringer Skepsis.
„Ich komme sofort“, sagte er. „Rufen Sie schon das nächste Revier an, Mademoiselle, und lassen Sie sich an, die Kriminalpolizei weitervermitteln, wenn man Ihnen dort nicht helfen kann.“
Als Nicole das Polizeirevier am Apparat hatte, war man weniger aufgeschlossen.
„Sie haben wohl gehascht, was?“ fragte der Beamte brummig. „Leichen, die umher gehen und Zettel übermitteln, so ein Blödsinn!“
„Kommen Sie vorbei und überzeugen Sie sich selbst.“
„Ich denke nicht daran. Ihnen, Mademoiselle, rate ich, sich ins Bett zu legen und auszuschlafen. Wenn Sie der Polizei auffallen, können Sie mit einer Strafe wegen Rauschgiftmißbrauchs und Erregung öffentlichen Ärgernisses rechnen.“
Wütend knallte Nicole den Hörer auf die Gabel. Sie nahm ihn wieder ab, ließ sich von der Auskunft die Nummer der Kriminalpolizei geben und verlangte dort, entweder Inspektor d’Estienne oder seinen Stellvertreter zu sprechen.
Nach kurzer Wartezeit meldete sich ein Mann namens Giraud, der Nicole geduldig zuhörte und ohne weitere Fragen versprach, sofort zum Square J. Morin zu kommen.
Als Nicole um die Straßenecke bog und zu Robert und dem Wagen zurückkehrte, hatten sich bereits ein paar Neugierige angesammelt. Wenige Minuten später kam der Polizist, der in Professor Dulacs Wohnung Wache gehalten hatte, und nach einer weiteren Viertelstunde traf Inspektor Giraud, der Assistent Kommissar d’Estiennes, mit zwei Limousinen und dem Einsatzwagen der Mordkommission ein.
Der Polizeiarzt sah gleich, daß es sich hier um keinen Mord handeln konnte. Im Licht starker Scheinwerfer untersuchte er den modernden, stinkenden Leichnam. Dann wandte er sich an Giraud.
Giraud bat Robert Arvois, Nicole Dulac, sowie den Polizeiarzt in den Einsatzwagen. Mittlerweile hatte sich trotz der späten Stunde eine Menschenmenge angesammelt. Der Polizeifotograf war dabei, seine Aufnahmen von dem Leichnam zu schießen.
„Ganz ohne Zweifel“, sagte der Polizeiarzt im Einsatzwagen, „der Mann draußen auf dem Bürgersteig ist seit drei bis vier Wochen tot. Der Schädel wurde ihm erst lange nach seinem Tod, nämlich heute, eingeschlagen. Auch die anderen Verletzungen sind frisch. Wie dieser Leichnam sich aus eigener Kraft bewegt haben soll, wie Monsieur Arvois und Mademoiselle Dulac es behaupten, ist mir unerklärlich.“
„An diesem Fall ist so gut wie alles unerklärlich“, knurrte Giraud, ein beleibter Mann um die Vierzig. „Nun, Docteur, wenn Sie mir sagen, daß der Tote draußen schon seit mehreren Tagen verschieden ist, sehe ich keinen Grund, Monsieur Arvois in Haft zu nehmen. Er hat sich weder des Mordes, des Totschlags noch der Körperverletzung schuldig gemacht.“
„Höchstens der Leichenschändung“, meinte der Polizeiarzt. „Juristisch ergibt das eine interessante Rechtslage. Wenn Sie von einer Leiche angegriffen werden und sich gegen diese zur Wehr setzen, ist Ihre Gegenwehr dann Leichenschändung?“
„Ihr makabrer Sinn für Humor geht mir völlig ab, Docteur“, sagte Giraud. „Der Leichnam kommt in die Pathologie. Sollen
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