0923 - Die Henkerin
sie auch unbedingt etwas sehen, von dem sie bisher nur gelesen hatten. Wir waren nicht weit von hier, das heißt, die beiden und ich. Meine Frau ist nicht mitgegangen. Wir besuchten The London Dungeon in der Tooley Street.«
Er legte eine Pause ein, ich aber wollte mehr wissen und war auch nervös. »Weiter Tanner, weiter!«
»Nun ja, was soll ich sagen? Ich bin mit ihnen gegangen, wir haben alles angesehen, und wir entdeckten genau diese Person, die du für eine Mörderin hältst. Nur war sie nicht echt, sondern aus Wachs. Das ist alles…«
***
Ich starrte ihn mit einem Blick an, der ihn praktisch dazu zwang, sich zu amüsieren. »Wenn du wüßtest, wie du aussiehst, John, würdest du schnell den Blick wechseln.«
»Kann sein«, flüsterte ich, »muß aber nicht. Eine Frage, Tanner. Du hast dich nicht geirrt?«
»Nein, wieso? Hast du dich bei der Beschreibung der Täterin denn geirrt?«
»Habe ich nicht.«
»Eben, und ich habe mich auch nicht geirrt. Diese Frau steht als Wachsfigur im Dungeon.«
»Stand«, murmelte ich.
»Ach. Du meinst, daß sie ihren Platz verlassen hat, um die Menschen zu killen?«
»So ähnlich«, murmelte ich und dachte um einige Jahre zurück, als wir im Dungeon einen schrecklichen Fall erlebt hatten, denn da waren ebenfalls Wachsfiguren zum Leben erwacht und hatten die alten Foltermethoden in unsere Zeit übertragen. Ich hatte diese Touristenattraktion damals als Londons Gruselkammer Nummer Eins bezeichnet. Inzwischen war die Anlage vergrößert und modernisiert worden.
Ein Restaurant empfing die Gäste, und es roch in den alten Tunnelanlagen nicht mehr so muffig.
»Ich warte noch auf eine Antwort, John.«
»So wird es wohl gewesen sein.« Tanner schwieg.
»Glaubst du mir nicht?« fragte ich nach einer Weile.
Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Was ich glaube, spielt keine Rolle. Und bei dir sowieso nicht. Ich habe gelernt, daß es Dinge gibt, über die es sich nicht lohnt, großartig zu diskutieren. Aber eins weiß ich inzwischen. Wenn du dich so reinhängst, glaube ich, daß wir im Dungeon suchen sollten.«
»Stimmt nur zum Teil, Tanner.«
»Wieso? Machst du jetzt einen Rückzieher?«
»Überhaupt nicht.«
»Was hast du dann?«
»Ich werde suchen, nicht du . Und zwar werde ich nach Feierabend suchen.«
»Das bleibt dir überlassen.«
»Allerdings möchte ich dich noch fragen, ob dir wirklich nichts aufgefallen ist?«
»Nein, John. Die Figur war wie alle. Sie sah täuschend echt aus, aber durch ihren Körper floß kein Blut. Sie war auch kalt oder kühl, so wie Wachs eben sein kann. Ich habe sie berührt. Ich streichelte ihr Gesicht, daran kann ich mich erinnern. Die Halbwüchsigen amüsierten sich natürlich über die Kleidung. Du kannst dir ja vorstellen, welche Bemerkungen sie machten, aber das war auch alles.«
Godwin de Salier wollte durch ein lautes Räuspern auf sich aufmerksam machen, was er auch schaffte.
»Bitte, entschuldigt, wenn ich euer Gespräch störe, aber ich möchte mich verabschieden, wenn ich darf.«
»Wo willst du denn hin?« fragte ich.
»Ins Hotel, wo der Abbé wartet. Es ist etwas viel für mich gewesen, John, das wirst du verstehen können. Ich kann die Gewalt so einfach nicht verkraften.«
»Brauchst du ihn noch?« fragte ich Tanner.
»Nein, du reichst mir.«
»Danke.«
Der Bretone verabschiedete sich. Gern ließ ich ihn nicht gehen, war aber auf der anderen Seite froh, daß er mich nicht begleiten wollte. Er würde an dieser Rückkehr der Carlotta genug zu knacken haben.
»Wann sehen wir uns?« fragte ich noch.
»Gibst du uns Bescheid?«
»Mach ich.«
»Gut, dann viel Glück.« Er lächelte etwas schmerzlich und stieg in den Lift.
Tanner schaute ihm nach. »Wer war das denn?« fragte er.
»Godwin de Salier.«
»Kenn ich nicht.«
»Er ist mehrere hundert Jahre alt, wie auch unsere Mörderin, und er hat sie schon zu seiner Zeit über einen Balkon in die Tiefe gestürzt, doch sie überlebte auf eine geheimnisvolle Art und Weise. Und jetzt ist sie wieder zurückgekehrt.«
Tanner tippte gegen seine Stirn. »Vertust du dich nicht bei dem Alter?«
»Sicher.«
»Und dann sieht er noch so gut aus?«
»Hat sich gut gehalten, wie?«
»Sehr gut sogar. Da kann ich wirklich nur lachen. Ich glaube dir kein Wort.« Er schielte mich an.
»Oder doch?«
Ich kannte Tanner sehr gut und wußte, daß er keine Ruhe geben würde, bevor er nicht erfahren hatte, wie die Dinge zusammenhingen. Ich klärte ihn auf,
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